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Beauvoir versucht, diese Fragen ausgehend von ihrem philosophischen Ansatz<br />
zu beantworten. Sie bestimmt Altern und Alter in ihrem Bezug aufeinander: Altern<br />
ist ein zeitlicher Prozess und konstitutiver Bestandteil der Situation der körperlichen<br />
Existenz. Altern hat als Prozess selbst ein gedoppeltes Verhältnis zur<br />
Zeit, ein Verhältnis, das sich beständig ändert. Altern ist einerseits die Erkenntnis,<br />
dass das Prakisch-Inerte, die Vergangenheit dessen, was wir getan haben, anwächst.<br />
In dieser Bestimmung der Vergangenheit als das Praktisch-Inerte nimmt<br />
Beauvoir sowohl Sartres wie auch André Gorz’ 6 Begrifflichkeit auf. Andererseits<br />
verändert sich die Zeitlichkeit der sich mittels Entwürfen in die Zukunft entwerfenden<br />
Existenz insofern, als nicht nur die Vergangenheit größer wird, gefroren<br />
ist, erstarrt, wie Beauvoir sagt, sondern eben genau aus diesem Grund die Zukunft<br />
immer begrenzter und geschlossener wird.<br />
Doch nicht nur der Aspekt zur Zeitlichkeit wird herausgearbeitet, sondern auch<br />
das – davon allerdings nicht unabhängige – Verhältnis des Subjekts als Freiheit zu<br />
Anderen.<br />
Die Bestimmung des Alters als Für-Andere-Sein zeigt die Überdeterminiertheit<br />
von außen auf: Du bist so alt, nicht wie du dich fühlst, sondern wie dich die anderen<br />
sehen. Als Beispiel dient ihr, der 60jährigen Autorin, der Satz eines Unbekannten,<br />
der, in den USA 10 Jahre zuvor, als er hörte, dass sie 50 Jahre alt ist, seinem Freund<br />
sagte: »Also ist Simone de Beauvoir eine alte Frau«. Es gibt keine wirklich innerliche<br />
Erfahrung des Alters – sie selbst fühlte sich jung. Alter, Altersbilder, so Beauvoir,<br />
dienen oft dazu, Menschen darauf zu reduzieren. Für-sich-Sein und Für-Andere-Sein,<br />
die Ambiguität in der Struktur und der Erfahrung der Existenz, zeigt sich<br />
im Alter sehr schmerzhaft durch den Blick der Anderen: wir haben uns geändert und<br />
können es selbst nicht realisieren. In Gesellschaften, die Menschen von einem bestimmten<br />
Zeitpunkt an auf das Alter reduzieren, sie verobjektivieren, ihnen Wesenseigenschaften<br />
zuschreiben, ist Alter ein generelles Problem der Existenz, das sich<br />
vor allem mit politischem und sozialem Blick analysieren lässt.<br />
Dieses Ergebnis führt Beauvoir dazu, dass sie die Begriffe Transzendenz und<br />
Immanenz, die sie in »Das andere Geschlecht« auf die Geschlechter bezogen hatte,<br />
nunmehr auf den alten Menschen bezieht: Der, dessen Leben sie mit soziologischem<br />
Blick beschreibt, verkörpert in seiner Existenz kein Handeln mehr, sondern<br />
nur noch ein Sein. Transzendenz ist überschreiten, sich entwerfen. Die Existenz des<br />
auf sein Alter, auf Wiederholungen reduzierten Menschen, dessen Sein sich radikal<br />
verändert hat, ist nicht mehr Praxis. Wenn nun aber Transzendenz das Menschsein<br />
als Transzendieren der Vergangenheit in die Zukunft definiert bzw. ausmacht, und<br />
der alte Mensch dies nicht mehr kann – ist er dann noch menschlich? In diesem Zusammenhang<br />
wird in der zeitgenössischen Beauvoirforschung der Freiheitsbegriff<br />
und dessen Verständnis als einerseits ontologische und andererseits praktische Freiheit<br />
diskutiert. Letztlich geht es nicht nur um die Frage danach, ob ein Mensch onto-<br />
6 Simone de Beauvoir: Das Alter. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 319.<br />
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