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ihren geradezu hymnischen Beschreibungen eines glückhaften Liebesaktes, 65 bei<br />
dem die Alterität zwischen Mann und Frau keinen feindlichen Charakter mehr<br />
trägt, sondern dialektisch aufgehoben wird: »Im männlichen Ungestüm sieht die<br />
Frau das umgekehrte Bild des stillen Feuers, das sie verzehrt. Die Herrschaft des<br />
Mannes ist die Macht, die sie (die Frau – I. S.) über ihn ausübt. Sein vor Leben<br />
strotzendes Glied gehört ihr, wie ihr Lächeln dem Mann gehört, der ihr die Lust<br />
verschafft. Alle Reichtümer der Männlichkeit und der Weiblichkeit bilden, indem<br />
sie sich ineinander spiegeln [...] eine bewegte und ekstatische Einheit.« 66 Meiner<br />
Auffassung nach hätte sie diese Stelle nicht so schreiben können, wenn sie<br />
während der Entstehungszeit des Buches nicht Ähnliches mit Algren gerade selbst<br />
erlebt hätte. Insofern scheint mir ein autobiographischer Untertext hier sehr wahrscheinlich<br />
zu sein. Gleichzeitig hat das Zitat für mich auch einen philosophischen<br />
Untertext: die Anwendung des von Hegel inspirierten Begriffs der Wechselseitigkeit.<br />
Ein schöner Beleg für die von Danièle Fleury angesprochene Trias von Gefühl,<br />
Ereignis und Philosophie bei Beauvoir!<br />
Beauvoirs intensive Beschäftigung mit sexuellen Fragen war für sie auch eine<br />
Form, die strengen Tabus ihres Herkunftsmilieus zu überwinden. Dominique Desanti<br />
bezeugte jüngst im Sonderheft der »Temps Modernes«, dass sich »Castor«<br />
schon 1941-1942, also vor der Beziehung zu Algren, sehr sachkundig über dieses<br />
Gebiet geäußert habe: »Nie zuvor hatte ich eine Frau gehört, die so genau, so frei<br />
und so natürlich über Sex sprach, ihn gewissermaßen ›theoretisch untermauerte‹.<br />
Schon mit dreiunddreißig Jahren hatte sie also die Bestandteile dessen herausgefunden,<br />
was sie dann ergänzte, aufbaute, weiterentwickelte und im ›Anderen Geschlecht‹<br />
zu einem neuen, kohärenten Konzept verarbeitete.« 67<br />
Je stärker die frühe Prägung, desto länger der Weg zu ihrer Überwindung – so<br />
wird allgemein angenommen. Doch Beauvoir war in allem schnell, und wie dieses<br />
Zitat beweist, sogar schneller als bisher bekannt. Dadurch wurde sie nicht nur<br />
zur Zerstörerin des Mythos vom »Ewigweiblichen«, 68 zur engagierten Mitstreite-<br />
65 Am Ende des Kapitels »Einführung in die Sexualität«. Siehe dazu É. Lecarme-Tabone: »Le deuxième sexe«: une<br />
Œuvre littéraire? In: Les Temps Modernes. Paris Janvier-Mars 2008, S. 226.<br />
66 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, a. a. O., Neuübersetzung 1992, II, S. 490. – Das Originalzitat lautet:<br />
»la fièvre immobile qui la brûle, la femme en contemple dans la fougue virile la figure inversée; la puissance de<br />
l’homme, c’est le pouvoir qu’elle exerce sur lui; ce sexe gonflé de vie lui appartient comme son sourire à l’homme<br />
qui lui donne le plaisir. Toutes les richesses de la virilité, de la féminité, se réfléchissant [...] composent une mouvante<br />
et extatique unité.« Le deuxième sexe, a. a. O., II, Taschenbuchausgabe von 1988, S. 189-190 (Unterstreichungen<br />
I. S.). – In der alten Fassung von 1951 ist dem Übersetzer Fritz Montfort ein für seine männlich geprägte<br />
Wahrnehmung signifikanter Lapsus (nicht der einzige dieser Art) unterlaufen. Bei ihm heißt es fälschlicherweise:<br />
»Die Macht des Mannes ist das Vermögen, das er über sie ausübt.«, a. a. O., S. 380 (Unterstreichungen I. S.).<br />
67 Dominique Desanti: Un jeune Castor: Souvenirs. In: Les Temps Modernes. Paris Janvier-Mars 2008, S. 39 – Dominique<br />
Desanti beteiligte sich an verschiedenen Résistance-Gruppen, u. a. 1941 an Sartres kurzlebigem Versuch<br />
»Socialisme et liberté«. In mehreren Büchern rechnete sie mit der Französischen Kommunistischen Partei ab, deren<br />
Mitglied sie von 1943 bis 1956 gewesen war. – Siehe dazu ihren Beitrag »Le deuxième sexe« et le Parti communiste<br />
français: souvenirs. In: Cinquantenaire, a. a. O., S. 371-375.<br />
68 Siehe dazu Irene Selle: Simone de Beauvoirs und Elisabeth Badinters Beiträge zur Überwindung des Mythos<br />
vom Ewigweiblichen. In: Inge Stephan, Sigrid Weigel, Kerstin Wilhelms (Hrsg.): »Wen kümmert’s, wer spricht«.<br />
Zur Literatur und Kulturgeschichte von Frauen aus Ost und West. Köln Wien 1991.<br />
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