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Die rhetorischen Mittel<br />
Nicht nur die für die zentrale These des Buches grundlegende theoretische Ausarbeitung<br />
des Situationsbegriffs teilt dieses Werk von 1970 mit das »Andere<br />
Geschlecht« – auch die rhetorischen Mittel sind sehr ähnlich. So wird der Leser<br />
konsequent in direkter Anrede zur Klärung des Problems aufgefordert: hier wie<br />
auch in »Das andere Geschlecht« ein genialer Schachzug: »[…] es ist nötig, dieses<br />
Schweigen zu brechen: ich bitte meine Leser, mir dabei zu helfen.« Rhetorisch<br />
ist dies wie das radikale Fragen »Was ist eine Frau« (in der Einleitung von »Das<br />
andere Geschlecht«) eine Einbindung der – auch jeweils zeitgenössischen – Leserinnen<br />
und Leser, eine Aufforderung zum Dialog, der die unterschiedlichen Antworten<br />
auf den Text und das dargestellte Problem abhängig macht von den<br />
eigenen Erfahrungen der Leser und damit ihrer, also auch unserer, eigenen geschichtlichen<br />
Situiertheit. Damit wird die Einbeziehung der eigenen Situiertheit<br />
der Leser, die Reflexion auf unser eigenes Altern, auf die Situationen von alten<br />
Menschen in unserer heutigen Gesellschaft, auf das aktuelle Wissen, die Bilder<br />
und die Diskurse über das Alter gefordert. Für die Erkenntnis des wissenschaftlichen<br />
Gegenstandes »Alter«, der ethischen und der politischen Frage nach Alter<br />
und Altern und die Suche nach einer ethischen und sozialpolitischen Lösung des<br />
Problems ist die direkte Aufforderung an die Leser notwendig: Erst sie macht den<br />
Lesern jeder möglichen späteren Zeit die radikale Vergeschichtlichung des Alters<br />
und des Alterns deutlich, die die Bedingung der Denkmöglichkeit von vergangener<br />
und zukünftiger Veränderung ist.<br />
Viele Formulierungen in der Einleitung erinnern sehr an »Das andere Geschlecht«.<br />
Nicht allerdings die Erklärungen; die sind in »Das Alter« eindeutig sozialistischer<br />
Theorie geschuldet, vgl. zum Beispiel der Bezug auf den Klassenkampf<br />
(DA, S. 12) als Grund für die Vielzahl der Gesichter des Alters. Zudem<br />
spricht Beauvoir in »Das Alter« direkter von sich selbst, sie verwendet bei ihren<br />
entscheidenden Sätzen ein »wir«.<br />
Alter/Altern<br />
Nicht die Übertragung des am häufigsten zitierten Satzes der feministischen<br />
Theorie »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«, das den ersten Teil<br />
des zweiten Buchs von »Das andere Geschlecht« eröffnet, in »Man kommt nicht<br />
alt zur Welt, man wird es« (»On ne naît pas vieux on le devient«), ist der Clou,<br />
wie dies in letzter Zeit, u. a. in dem oben genannten Artikel von Tavoillot, häufig<br />
suggeriert wird. Nicht also die Prozesshaftigkeit des Alters ist der Clou, sondern<br />
die Herausarbeitung des Alterns als radikal doppelsinniger Grundsituation der<br />
Existenz in (notwendiger) Abhängigkeit von Mythen, Bildern, wissenschaftlichen<br />
Diskursen des Alters, die sich unter anderem auf reduktionistische, deterministische<br />
Naturalismen und Wesenszuschreibungen bzw. Definitionen des Alters durch<br />
Biologie und Medizin beziehen, einerseits, und von seinen ökonomischen Bedin-<br />
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