Armen Oganessjan - Internationales Leben
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Michail Majorow<br />
zu urteilen, dazu, dass dieses Land nicht mehr als eine Kraft betrachtet wurde,<br />
die die Sachlage auf dem Balkan ernst beeinflussen könnte. Bis in die letzte Zeit<br />
hinein kümmerten sich die Europäer eher wenig um die Fähigkeit der sich rasch<br />
zur regionalen Supermacht erhebenden eurasiatischen Türkei, die internationale<br />
Stimme Europas wesentlich zu verstärken und zur Stabilisierung des islamischen<br />
Faktors innerhalb des Kontinents beizutragen.<br />
Das 2003 eingeleitete Abenteuer der USA in Irak, das den Absichten der<br />
globalen Herrschaft der Vereinigten Staaten einen empfindlichen Schlag versetzte,<br />
säte in Europa Befürchtungen um die Perspektiven seiner sorglosen Existenz<br />
in einer unipolaren Welt und zwang die kontinentale Elite, die an die eigene<br />
Verantwortung nicht mehr gewohnt war, sich Gedanken zu machen über den Platz<br />
der europäischen Politik in der sich wandelnden Konfiguration des weltweiten<br />
Kräfteverhältnisses. Die 2008 ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise ließ<br />
die europäischen Politiker noch mehr an die Notwendigkeit denken, sich den<br />
neuen Realitäten anzupassen. Der Machtwechsel in den Vereinigten Staaten,<br />
der im Zeichen des Verzichts auf die gradlinige und frech beharrliche Politik<br />
von George W. Bush stand, ließ die Anhänger der „Kräftebalance“ erneut in den<br />
Vordergrund der amerikanischen Diplomatie treten. Jetzt war die Rede jedoch<br />
von der offensichtlichen Zustimmung der Amerikaner dazu, mit dem stürmisch<br />
wachsenden China die „Verantwortung für die globale Führung“ zu teilen. Zugleich<br />
damit sagte der Premier des Staatsrates der VR China, Wen Jiabao, als sich US-<br />
Präsident Barack Obama im November 2009 in Peking aufhielt, er sei mit der Idee<br />
der so genannten „großen Zwei“ nicht einverstanden, und erklärte, dass China „eine<br />
unabhängige Politik verfolgt und es nicht vorhat, mit einem anderem Land oder<br />
einer Ländergruppe ein Bündnis zu schließen“ 4 .<br />
Dennoch kann von einer ernst zu nehmenden Krise der transatlantischen<br />
Solidarität keine Rede sein, selbst wenn die früheren führenden Politiker<br />
Deutschlands und Frankreichs — Helmut Schröder und Jacques Chirac — sich<br />
offen gegen die amerikanische Okkupation des Irak äußerten. Durchaus vernünftig<br />
wirkt die Meinung des russischen Ex-Aussenministers Jewgeni Primakow, der auf<br />
die Fruchtlosigkeit des Bestrebens hinweist, die Gegenüberstellung Westeuropa —<br />
Vereinigte Staaten auszuspielen. Die Westeuropäer und die Amerikaner sind<br />
historisch eng mitinander verbunden (Emigranten aus Europa bildeten das Rückgrat<br />
der US-Bevölkerung), das sind sie auch zivilisationsmäßig (Kulturennähe und<br />
religiöse Identität); ihre Beziehungen sind durch die Teilnahme der USA am<br />
Zweiten Weltkrieg sowie durch den amerikanischen nuklearen Schirm in den<br />
Jahren des Kalten Kriges zementiert 5 . Selbstverständlich ist man sich in Westeuropa<br />
darüber im Klaren, dass sich in der neuen Architektur der Weltordnung die früheren<br />
Äußerungen einer übermäßigen Unterordnung unter die Vereinigten Staaten negativ<br />
<strong>Internationales</strong> <strong>Leben</strong>