Armen Oganessjan - Internationales Leben
Armen Oganessjan - Internationales Leben
Armen Oganessjan - Internationales Leben
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Digest, 2011<br />
Ungeordnetes Europa<br />
121<br />
<strong>Leben</strong>squalität zu erreichen, die als Orientierungspunkt der inneren Entwicklung<br />
diente. Aber Westeuropa zählte Russland „in der Tiefe seiner Seele“ niemals<br />
zu seinen Gleichgesinnten und ließ es nicht näher an sich heran, als das die<br />
Imperative der gesamteuropäischen Erschütterungen forderten. Auch heute, da<br />
der Kommunismus zusammengebrochen ist und in Russland die kapitalistischen<br />
Zustände hergestellt worden sind, beeilt sich Westeuropa nicht mit einem<br />
„Neustart“ in den Beziehungen zu Russland und drückt immer noch auf den Knopf<br />
„Pause“.<br />
Es sei gesagt, dass das heutige Russland der Europäischen Union nicht wenig<br />
Anlässe bietet, den Abschluss eines neuen Basisabkommens zwischen Russland<br />
und der EU in die Länge zu ziehen und die Frage der Aufhebung des Visaregimes<br />
auf unbestimmt lange Zeit aufzuschieben. In Russland bestehen eine für die<br />
weitaus meisten Europäer undenkbar tiefe soziale Differenzierung der Gesellschaft,<br />
ein schockierender Grad der Korruption und das Wachstum der organisierten<br />
Kriminalität, die über die russischen Grenzen hinausgegangen ist. Solange<br />
Russland nicht wenigstens diese „Geschwüre“ entfernt, werden die Europäer<br />
nach wie vor Gründe haben, sich Russland als einen „Fremdkörper“ in Europa<br />
vorzustellen.<br />
Der historisch begründete Hang Russlands nach Europa wird immer von<br />
dem Streben seiner Diplomatie begleitet werden, auf die europäische Politik<br />
möglichst stark einzuzwirken. Es wäre jedoch recht unüberlegt, Russlands<br />
Zukunft in der Hoffnung ausschließlich auf seinen Einbau in die westliche<br />
politische und ökonomische Konstruktion zu formen und dazu mit Kategorien<br />
wie zivilisationsbedingte Neigungen oder Thesen von einer unvermeidlichen<br />
„Gefahr aus dem Osten“ zu operieren. Die Weltordnung ist in einer grundlegenden<br />
Transformation begriffen, ihre Umrisse zeichnen sich bereits in der Entstehung<br />
neuer Zentren der internationalen Politik und in der sich vertiefenden amerikanischchinesischen<br />
Rivalität ab. Europa selbst erlebt das Ende der „Epoche des<br />
Optimismus“ (vom Fall der Berliner Mauer bis zum Beginn der Finanz- und<br />
Wirtschaftskrise); das äußert sich in den ernsten Zweifeln an der Unerschütterlichkeit<br />
des erreichten Grades der europäischen Integration und im Wachstum der<br />
nationalistischen Stimmungen.<br />
Angesichts der Schwankungen in der weltweiten Kräftekonstellation steht<br />
die russische Führung vor der Wahl: sich mit den verfügbaren „Sicherungen“<br />
in Form des Kernwaffenbesitzes und der Durchführung der „energetischen<br />
Diplomatie“ zu begnügen oder aber sich, als aktiver Anhänger einer<br />
multipolaren Welt, auf die Umwandlung Russlands in einen solcher Pole zu<br />
konzentrieren. Die Geschichte bezeugt: Russlands Macht und Autorität hängen<br />
in erster Linie mit einer erfolgreichen Lösung der Aufgaben der inneren