Armen Oganessjan - Internationales Leben
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Digest, 2011<br />
Ungeordnetes Europa<br />
105<br />
anderen Ländern und Völkern annahm. Die Idee eines gemeinsamen Europa wurde<br />
für diese Politiker lediglich ein Propagandainstrument, das zu ganz bestimmten<br />
politischen Zwecken genutzt wurde.<br />
Der Erste Weltkrieg und seine tragischen Folgen versetzten die europäischen<br />
Politiker, deren Hilflosigkeit eindeutig zutage trat, in Schrecken und verbreiteten<br />
Pessimismus und Enttäuschung. Die Oktoberrevolution in Russland und die<br />
darauffolgende Intervention wie auch der Boykott seitens des Westens verstärkten<br />
nur noch die Zerrüttung und die Schwankungen in Europa. 1923 erschien<br />
das Buch des österreichischen Schriftstellers Richard Coudenhove-Kalergie<br />
„Paneuropa“, das viel Lärm machte. Auf das Buch folgte seine Aufforderung<br />
an die französischen Parlamentarier über die Vereinigung Europas (er wurde von<br />
der französischen Diplomatie in Form des so genannten „Briand-Plans“ benutzt).<br />
Die Hauptidee von Coudenhove-Kalergie bestand darin, Europa angesichts der<br />
drei ihm gegenüberstehenden Kräfte — UdSSR, Großbritannien und USA — als<br />
selbständiges politisches und ökonomisches Zentrum zu vereinigen, obwohl<br />
der Österreicher auch die Notwendigkeit zugab, zwecks Wiedergeburt Europas<br />
Beziehungen zu Russland herzustellen.<br />
Die Position der Sowjetunion zur Vereinigung Europas stand unter einem<br />
wesentlichen Einfluss der marxistisch-leninistischen Ideologie, darunter der<br />
äußerst negativen Einschätzungen Wladimir Lenins in seinem Artikel „Über die<br />
Losung der Vereinigten Staaten von Europa“. Aber der Machtantritt der Nazis in<br />
Deutschland mit ihrer harten antisowjetischen Rhetorik und ihren Plänen der<br />
Herrschaft in Europa bewogen die sowjetische Führung, sich den Fragen der<br />
Gewährleistung der Stabilität in Europa zuzuwenden, darunter durch Annäherung<br />
an Frankreich und seine Verbündeten sowie über die Politik der kollektiven<br />
Sicherheit. Im Dezember 1933 fasste das Politbüro des ZK der Kommunistischen<br />
Partei der Sowjetunion den Beschluss, der die Möglichkeit des UdSSR-Beitritts<br />
zum Völkerbund und des Abschlusses eines regionalen Abkommens über<br />
gegenseitigen Schutz vor einer Aggression seitens Deutschlands (Ostpakt) vorsah.<br />
In den Jahren 1934-1935 arbeitete die sowjetische Diplomatie aktiv an Fragen, die<br />
mit der Möglichkeit des Abschlusses des Ostpaktes zusammenhingen. Zugleich<br />
wurden Versuche unternommen, die Beziehungen zu England zu verbessern: Man<br />
hoffte, es zur Realisierung der Idee der kollektiven Sicherheit heranzuziehen. Doch<br />
in London zog man die „westliche Sicherheit“ vor und neigte immer häufiger<br />
zu dem Gedanken an eine Vereinbarung mit Deutschland und daran, ihm die<br />
Handlungsfreiheit im Osten zu gewähren.<br />
Die erniedrigend rasche Eroberung des Großteils von Westeuropa durch<br />
Deutschland, dessen Überfall auf die Sowjetunion, die Bildung der Anti-Hitler-<br />
Koalition schufen Voraussetzungen für eine Wiederbelebung der „europäischen