Armen Oganessjan - Internationales Leben
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Digest, 2011<br />
Casus Libyen<br />
133<br />
westlichen und russischen Massenmedien stellten im Laufe der libyschen<br />
Ereignisse die Frage nach dem Verzicht auf die Prinzipien des Westfälischen<br />
Systems. Der in den USA lebende russische Emigrant Nikolai Zlobin,<br />
Direktor der Russland-Eurasien-Programme des Instituts für internationale<br />
Sicherheit (Stadt Washington) veröffentlichte im Presseorgan der Regierung<br />
RF „Rossijskaja Gaseta“ den zweispaltigen Beitrag „Ende der Souveränitäten“,<br />
in dem er im wesentlichen erklärte, dass das bisher in der Welt gültige<br />
Völkerrecht, dem die Prinzipien des Westfälischen Systems zugrunde liegen,<br />
der Vergangenheit gehöre. Er betont im Einzelnen: „Die Tragödien wie die<br />
libysche oder die japanische zeugen davon, dass es unmöglich ist, die nationale<br />
Neutralität zu erhalten.“ Da im 21. Jahrhundert „nicht mehr möglich ist, die<br />
Priorität der vollwertigen Souveränität der nationalen Staaten bezüglich der<br />
wichtigsten Interessen der gesamten Weltgemeinschaft, das Prinzip der äußeren<br />
Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten bzw. die Nichtzulässigkeit<br />
der Gewährleistung der Sicherheit eines Landes, einer Region oder der<br />
Menschen mittels der äußeren Kräfte der Weltgemeinschaft zu erhalten. Das<br />
kann sie, d.h. die Weltgemeinschaft zu teuer kosten. So sehe ich mindestens das<br />
aus Washington“, schreibt Zlobin 1 .<br />
Die libyschen Ereignisse erwiesen tatsächlich den desorganisierenden Einfluss<br />
auf die Organisation der Vereinten Nationen und vor allem auf ihr exekutives<br />
Organ, den Sicherheitsrat.<br />
Als erste sprachen sich über die „ernsthafte Verletzungen der Menschenrechte<br />
und des internationalen humanitären Rechtes, die in der Libyschen Arabischen<br />
Dschamahirija erfolgten und erfolgen“, solche einflussreichen Organisationen aus<br />
wie die Liga der arabischen Staaten, die Afrikanische Union und die Organisation<br />
„Islamische Konferenz“. Der Rat der Liga der arabischen Staaten fasste am<br />
12. März 2011 Beschluss, sich an den UN-Sicherheitsrat mit der Bitte zu wenden,<br />
die flugfreie Zone für die regierungstreue libysche Luftwaffe zu beordern, die<br />
angeblich die friedliche zivile Bevölkerung vernichtet.<br />
Gestützt auf dieses Papier, erbrachte Frankreich die Initiative, die Situation<br />
in Libyen auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrates zu behandeln, indem es den<br />
militärischen Eingriff der Weltgemeinschaft in die libyschen Ereignisse forderte.<br />
Sowjetunion den politischen Schauplatz verließ und die Rolle der UNO der Politik der US-<br />
Präsidenten zu weichen begann. Alle nationalen Konflikte in jedem Weltteil wurden nicht so<br />
sehr zur Angelegenheit des UN-Sicherheitsrates wie vielmehr zu jener der US-Streitkräfte<br />
unter dem Deckmantel der NATO. Die Ereignisse in Jugoslawien, im Kosowo, Afghanistan<br />
und Irak waren schon nicht die Angelegenheiten der UNO, sondern die der USA und<br />
der von ihnen geleiteten Nordatlantischen Allianz. Das Westfälische System mit seiner<br />
unbedingten Achtung der nationalen staatlichen Souveränität wurde praktisch verwaschen.