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Das Romanwerk von Jacques Stephen Alexis 107
Geheimnis offenbart, übertönt das Singen der bedrohten und sterbenden Bäume die Utopie
eines kommenden Zeitalters der Menschenliebe und des höheren Verständnisses. 82
Der neue Lebensabschnitt des „homme-lumière“ beginnt ausgerechnet bei den
Holzfällern. Alexis, der die fast komplette Vernichtung der haitianischen Natur nicht mehr
miterlebte, traf damit die Schwachstelle des natürlichen Gleichgewichts in Haiti. Heute gehört
der Gesang der Bäume genauso der Vergangenheit an wie Gonaïbos Hochebene von Cul-de-
Sac. Die Erosion der Landschaft stellt Haitis größtes ökologisches Problem dar. Davon sind
die Trinkwasserversorgung genauso betroffen wie die zum Großteil bereits ausgestorbene
Tierwelt und die Korallenriffe. Der Wald, in dem Manuel in Gouverneurs de la rosée noch
eine Quelle ausfindig machen konnte, ist abgeholzt und kann keinen Schutz mehr vor den
Zyklonen bieten, die das Land regelmäßig heimsuchen. Der Neubeginn, der auf diese
katastrophale Lage noch folgen kann, bleibt mehr als ungewiss. 83
3.9 La belle amour humaine: Alexis’ anthropologisches und psychologisches Interesse
In Alexis drittem Roman L’Espace d’un cillement tritt die Naturbeschreibung in den
Hintergrund und übernimmt keine konstitutive Rolle für die Entwicklung des
Romangeschehens. Die Handlung spielt in einem billigen Bordell von Port-au-Prince, in dem
vor allem die in Haiti stationierten US-Soldaten absteigen. Die kubanische Prostituierte La
Niña Estrellita ist das beliebteste Mädchen der Sensation Bar. Entgegen dem Namen der Bar
ist La Niña innerlich völlig abgestumpft und leidet an schweren depressiven Krisen. Um ihre
Situation besser ertragen zu können, hat sie ihre Vergangenheit verdrängt. Als sie ihrem
Landsmann El Caucho, einem engagierten Gewerkschaftler, begegnet, sind beide voneinander
magisch angezogen. Nach verschiedenen Stufen der Annäherung – jedes Kapitel thematisiert
den Kontakt über einen der sechs Sinne – wird ihnen klar, dass sie sich aus ihrer Kindheit
kennen. Sie treten aus ihrer inneren Isolation heraus und nehmen sukzessiv sich und den
anderen wahr. Ein schmerzhafter Bewusstwerdungsprozess setzt ein, in dem sie Verdrängtes
82 Wie in der Ekphrasis der Kultgegenstände ist auch in den singenden Bäumen das metapoetische Modell des
Romans verborgen. Die Struktur der einzelnen Handlungsstränge, die nach und nach miteinander in Verbindung
gebracht werden, ähnelt einem Baum. In seinem Vortrag zur Zukunft des Romans äußert sich Alexis explizit zu
seiner bevorzugten Form: „La forme qui m’attire personnellement est une forme ramifiée, rigoureuse, dans son
désordre comme les beaux arbres de nos forêts, chaotique comme la conscience haïtienne contemporaine,
contradictoire, poétique, violente, sans que cependant la logique interne de l’histoire ne soit trahie.“ Cf. Jacques
Stephen Alexis, 1957b, 100.
83 Auch Jacques Stephen Alexis wurde am Ende seines Lebens zunehmend pessimistischer, wie die morbide
Stimmung zweier Romanfragmente bezeugen, die Michel Séonnet in der Biographie Alexis’ vorstellt (Cf.
Michel Séonnet, 1983, 125-134.). Die Ferne des Schriftstellers zur politischen Aktion und die Unmöglichkeit,
mit der Literatur die Massen zu erreichen, scheinen ihn mehr und mehr bedrückt zu haben. In einem Text von
1959 mit dem Titel Le marxisme, seul guide possible de la révolution haïtienne stellt er die Bedeutung des
Kampfes an der Seite der Massen vor die Bedeutung des literarischen Schaffens (cf. Ibid. 137f). Sein
gewaltsamer Tod dokumentiert auf tragische Weise, wie wichtig ihm der konkrete politische Kampf tatsächlich
war.