Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg
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Die Natur als Projektionsraum: Maryse Condés Traversée de la Mangrove 244<br />
Diese Rätselhaftigkeit des Leben Sanchers wird durch den prophetisch geheimnisvollen<br />
Charakter des Gedichtverses verstärkt, den Sancher zu zitieren pflegt: „Je reviendrai chaque<br />
saison, avec un oiseau vert et bavard sur le poing…“ (Traversée 137, 234, 251). Der Vers<br />
entstammt dem Gedicht Amitié du Prince der Sammlung La Gloire des Rois von Saint-John<br />
Perse, dessen gesammelte Werke sich in der Pléiade-Ausgabe unter Sanchers wenigen<br />
Büchern befinden. 55 Bei einer näheren Betrachtung des dritten Teils von Amitié du Prince,<br />
der mit Sanchers Lieblingsvers einsetzt, sind die inhaltlichen Parallelen zu Traversée de la<br />
Mangrove augenfällig. So finden wir auch „le miel de sa sagesse“ (Traversée 251) im selben<br />
Teil wieder. Das Prosagedicht besteht hauptsächlich aus einem Briefwechsel zwischen einem<br />
„Je“, auch „Ami du Prince“ genannt, und dem Prinzen selbst, dessen Name das lyrische Ich<br />
bei Perse an einen Baum erinnert, aber selbst nicht genannt wird. Auch Sancher wird<br />
durchgängig mit Baum-Attributen charakterisiert. Wie das lyrische Ich der Amitié du Prince<br />
ist Sancher auf dem Weg und stimuliert die ihm Begegnenden, sich auf das Wesentliche zu<br />
konzentrieren. Mit dem Prinzen verbinden ihn die Geste des Sitzens und Wartens und die<br />
Fähigkeit, die Schmerzen des anderen zu erkennen. Aus dem Dialog ist ersichtlich, dass der<br />
Prinz sehnlichst die Ankunft seines Freundes erwartet. Er ruft ihm zu: „Hâte-toi! je<br />
t’attends!... Prends par la route des marais et par les bois de camphriers.“ 56 . Hier klingt<br />
schließlich auch der Titel des Romans an. 57 Mit dem Gedicht gemeinsam hat Condés Text<br />
außerdem die Verschmelzung des Individuums mit der Natur und den Elementen. Dies<br />
schlägt sich neben der Intimität der Romanfiguren mit der natürlichen Lebenswelt vor allem<br />
in der Beschreibung der Menschen mittels einer Fülle von Metaphern aus dem Bereich des<br />
Wassers sowie des Tier- und Pflanzenreiches nieder. 58<br />
Fau bezeichnet Sancher darüber hinaus als „Christ antillais“ (57). Obwohl diese Interpretation nicht mit allen<br />
Eigenschaften Sanchers in Einklang zu bringen ist, wird der Vorschlag Faus durch die zahlreichen biblischen<br />
Anklänge im Text gestützt. Christine Fau, 1994.<br />
55<br />
Cf. Traversée 45.<br />
56<br />
Cf. Saint-John Perse, 1960, 100.<br />
57<br />
Eine weiterführende Analyse der intertextuellen Bezüge des Romans zu Saint-John Perse wäre von großem<br />
Interesse für die Condé-Forschung, da evtl. der Einfluss des Dichters auf das Werk von Maryse Condé neue<br />
Perspektiven auf ihr Verhältnis zur kolonial geprägten Literatur eröffnet. Gerade die Bezüge zur<br />
Kolonialliteratur im weitesten Sinne werden in der Forschung zugunsten der Orientierung an modernen,<br />
postmodernen oder gar postkolonialen Autoren vernachlässigt. Ein Beispiel hierfür ist die Analyse von Leah<br />
Hewitt, die sich in einem Unterkapitel den intertextuellen Vernetzungen von Traversée de la mangrove mit<br />
anderen literarischen Werken widmet. Während Hewitt den Anspielungen auf die postkoloniale<br />
lateinamerikanische und antillanische Literatur und auf Faulkner einen großen Stellenwert einräumt, kommt sie<br />
auf Saint-John Perse, dessen Werke der Roman explizit nennt, gar nicht zu sprechen. Cf. Leah Hewitt, 1993, 87-<br />
90.<br />
58<br />
Fast alle Metaphern und Vergleiche, die Condé in ihren Text einfügt, rekurrieren auf Erscheinungen der Natur.<br />
Die Menschen werden vor allem in Analogie zu Pflanzen beschrieben, seltener auch mit Attributen aus dem<br />
Tierreich versehen, wobei das Tier als Vergleichsobjekt jedoch durchwegs pejorative Funktion hat. Von den<br />
Metaphern aus dem Pflanzenreich seien nur einige wenige genannt: Francis Sancher wird zum Baum stilisiert. Er<br />
ist „mahogany“ (Traversée 30, 31, 33), „pié-bwa“ (Traversée 40, 180), „acomat-boucan“ (Traversée 224) und<br />
„mapou“ (Traversée 230), seine Gliedmaßen ähneln schweren Ästen (Traversée 97, 202), er ist stämmig und