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Die Natur der Antillen im Spiegel der Kolonialliteratur 30 Die Fluchtbewegung im Raum ist immer auch eine Rückwärtsbewegung in der Zeit. Das fremde Land wird nicht nur anthropologisch mit dem Land der Kindheit assoziiert 6 , sondern wird ontologisch als das Land der frühen Menschheit gefasst. Dieses Modell diente nicht nur der Kunst als Paradigma, sondern war in etlichen Disziplinen der Wissenschaft wie der Ethnologie, der Volkskunde, Religionsgeschichte, Philosophie und Psychologie, einschlägig vertreten 7 . So glaubte man bis ins 20. Jahrhundert hinein, in den primitiven Völkern in der Evolution stehen gebliebene Frühstufen der menschlichen Spezies gefunden zu haben, denen der Europäer auf allen Ebenen überlegen sei 8 . „Das Frühe ist qua Ursprüngliches (»Primitives«) das Unentwickelt-Einfache, das Späte qua »Fortgeschrittenes« das Entwickelt-Komplexe“ 9 , wie es Riedel auf den Punkt bringt. Den primitiven Kulturen sei ein „Denken im Banne der Indifferenz“ 10 zu eigen, sie hätten in ihrem Bewusstsein zwischen sich und die Lebenswelt noch keine Grenze gesetzt und befänden sich damit, um auf Schillers anthropologisches Modell zurückzukommen, noch im naiven Naturzustand, nach dem sich der sentimentalische Europäer vergeblich zurücksehnt. In diesem Sinne melancholisch werden die literarischen Texte vor allem da, wo der im Verschwinden begriffene Naturraum als von der westlichen Zivilisation korrumpiert und zum Tode verurteilt erkannt wird. Gerade um die Jahrhundertwende boomt das Leseinteresse für derartige, spätromantisch angehauchte Narrationen, deren Autoren nur im Ausnahmefall das beschriebene exotische Land je mit eigenen Augen gesehen haben. 11 Ein gegenläufiges Interesse vertritt freilich der Kolonialroman des beginnenden 20. Jahrhunderts nach Art der Brüder Leblond. Statt auf der Flucht vor der europäischen Zivilisation das fremde Land als Himmel auf Erden zu entwerfen, propagieren die kolonialistischen Texte die Abhängigkeit der so genannten Wilden vom zivilisatorischen Einfluss Europas und damit von der weißen Rasse und deren Überlegenheit. Die Natur fungiert dabei als Gegenpol zur westlichen Kultur und wird wie die der Hexerei und der Magie verfallene Bevölkerung zivilisatorischen Maßregelungen unterzogen, gezüchtigt und 6 In vielen exotistischen Romanen ist das ferne Land dasjenige, wo die Romanfiguren eine ungetrübte Kindheit erlebt haben oder sich zumindest an ihre Kindheit zurückerinnert fühlen, wie dies z. B. in Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre oder Le Mariage de Loti von Pierre Loti der Fall ist. Auf letzteres Werk wird im folgenden noch zurückzukommen sein. 7 Cf. Wolfgang Riedel, 2000, 467. 8 Erst Lévi-Strauss widerlegte diese These und stellte die komplizierten, im Abstrakten ablaufenden Denkweisen der so genannten Primitiven dar; cf. Claude Lévi-Strauss, 1968. 9 Wolfgang Riedel, 2000, 467. 10 Ibid. 11 Régis Antoine spricht im Fall der exotistischen Literatur über die Antillen zwischen 1635 und 1940 von ca. 200 französischen Autoren aus der Metropole, die über die Antillen schrieben, ohne je dort gewesen zu sein, 75 Schriftstellern, die für ihre Romane kurze Reiseeindrücke verwendeten, und lediglich 50, die mehrere Jahre dort verbracht haben. cf. Régis Antoine, 1992, 331. cf. auch Lilyan Kesteloot, 1963, 38.
Die Natur der Antillen im Spiegel der Kolonialliteratur 31 zu dominieren versucht. Während also der Exotismus des 19. Jahrhunderts ein Wunschbild von einer fremden, unbekannt schönen Natur entwarf, versucht der Kolonialroman des Beginns des 20. Jahrhunderts der Landschaft eben das Fremde auszutreiben.
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