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Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg

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Die Stille bei Daniel Maximin 180<br />

wachsende Verzweiflung. Sie sitzt im gleichen Sessel, in dem ihre Mutter im Jahr 1928 saß,<br />

und hat die gleiche Körperhaltung eingenommen, so dass das Auge des Zyklons einem déjà-<br />

vu Erlebnis erliegt. Die Todesstille erweckt in Marie-Gabriel Gedanken an die Stimme ihrer<br />

Mutter, die ihr nie zu Ohren gekommen ist: „L’angoisse sèche qui l’avait envahie à l’orée du<br />

silence avait brusquement ranimé une vieille douleur très rare qu’elle ne reconnaissait que<br />

trop, car elle ravivait devant ses yeux fermés l’image de sa naissance revécue“ (Île 78). Die<br />

Abwesenheit von Geräuschen wird zum Inbegriff der fehlenden Stimme Siméas, zur<br />

Todesstille schlechthin. Erst durch die äußere Stille ist der Weg geebnet, die inneren Stimmen<br />

Marie-Gabriels zu Wort kommen zu lassen. Dort macht sich nun das schmerzhafte Schweigen<br />

der mütterlichen Stimme bemerkbar.<br />

In der sechsten Stunde des Zyklons, im sechsten Kapitel von L’Île et une nuit,<br />

wiederholt sich für Marie-Gabriel das Trauma der Eltern. Wieder begegnet dem Leser die<br />

bereits zitierte, zweifach bekannte Textstelle, die für den Vater den Verlust seiner Familie<br />

darstellte und für die Mutter zum Inbegriff seelischer und körperlicher Gewaltanwendung<br />

wurde. Das Trauma wird nun auch für Marie-Gabriel zur Realität: „La réalité du désastre était<br />

si puissante qu’elle prenait des formes d’horreur que les pires souvenirs seuls pouvaient<br />

susciter.“ (Île 130). Anstelle ihrer Eltern ist nun ihre Zeit für die Auseinandersetzung mit der<br />

familiären, kollektiven Vergangenheit gekommen. Marie-Gabriel befindet sich am gleichen<br />

Ausgangspunkt wie ihre Mutter nach der Abtreibung: „Et maintenant, c’est l’isolement sans<br />

lumière, toutes les communications interrompues, la famine de toi“ (s. o.). Die Suche hat sich<br />

umgekehrt. Nicht die Mutter trauert dem verlorenen Kind nach, sondern das Kind bedarf<br />

dringend der verstorbenen Mutter. Marie-Gabriel hat sich aus Angst vor dem Zusammenbruch<br />

des Hauses und aus Angst vor dem ohrenbetäubenden Lärm des Sturms in das Badezimmer<br />

geflüchtet, das einzige Zimmer ohne Öffnung nach draußen. Wie Marie-Gabriel tritt auch der<br />

Leser in eine Art erzählerische Dunkelheit ein: Die Geschichte nimmt eine mythologische<br />

Wende, die Marie-Gabriel in eine kollektive Frühzeit versetzt. Marie-Gabriel ist nun l’Enfant,<br />

das Kind schlechthin. Draußen vor dem in der fantastischen Erzählung bereits eingestürzten<br />

Haus, wartet die bête-à-sept-têtes auf den Moment, in dem das Kind seinen verwüsteten<br />

Zufluchtsort verlässt, um es endgültig zu verschlingen.

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