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Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg

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Die Natur als Projektionsraum: Maryse Condés Traversée de la Mangrove 233<br />

und des Zerfalls, zwischen Geburt und Sterben: „Je venais de remonter de la Ravine, déserte,<br />

dont l’eau s’était enroulée comme un linceul autour de mon corps méprisé“ (Traversée 63),<br />

denkt Mira, als Sancher nicht wieder zur Schlucht kommt, um mit ihr zu schlafen.<br />

Deutlich wird die enge Verknüpfung von Leben und Tod, Glück und Gewalt im<br />

Element des Wassers in der Textpassage, die den Abtreibungsversuch schildert, den Sancher<br />

gewaltsam an Miras und seinem Kind vornimmt: Während Mira betäubt, „éperdue de<br />

bonheur“ (Traversée 108), von ihrer Rückkehr „dans [la] mer utérine“ ihrer Mutter träumt,<br />

weckt sie ein Schmerz, der sie die lebensbedrohende Situation für sich und das Ungeborene<br />

erkennen lässt. Variiert wird dieses Motiv in den Erinnerungen Jobys, Miras kleinem<br />

Halbbruder, an die Geburt von Miras Sohn. Da er die Bedeutung von „[p]erdre les eaux“<br />

(Traversée 94) nicht kennt, phantasiert er:<br />

Qu’est-ce que cela voulait dire? J’ai eu l’impression que la Ravine était sortie de<br />

son lit et qu’elle allait dévaler au milieu de la maison, son eau froide et mousseuse<br />

encombrée de crapauds, de cabris et de chiens morts noyés. (Traversée 94)<br />

Das Fruchtwasser, das die Geburt ankündigt, wird hier zur reißenden Flut aus dem geöffneten<br />

Geschlecht der Schlucht, das nicht Leben spendet, sondern totes Getier mit sich spült. Als<br />

Mira ein letztes Mal zu Wort kommt – sie ist die einzige Figur, deren Gedanken zwei Kapitel<br />

gewidmet sind – , löst sie sich von der Obsession 23 , weiterhin zur Schlucht zu gehen:<br />

Je ne descendrai plus jamais à la Ravine. Elle aussi m’a trahie. Comme Rosalie<br />

Sorane, ma mère, qui m’a laissée dans la solitude au premier jour du monde. Le<br />

fruit qu’elle m’a donné pour apaiser la faim de mon cœur était, en réalité, un fruit<br />

empoisonné.<br />

Moi, Mira, la sauvageonne sans col ni licou, je ne savais pas qu’il y a plaisir à<br />

servir, donner, voire s’humilier. (Traversée 230)<br />

Vom Traum der Vereinigung mit der Mutter, den sie in das Wasser der Schlucht<br />

hineinprojiziert hatte, oder der körperlichen Vereinigung mit Sancher oder Aristide, die sie<br />

nicht aus ihrer quälenden Einsamkeit befreien können, gelangt sie zu einem Lebensmodell,<br />

das die enge Schlucht der Ravine verlässt („Je retracerai les chemins du monde“, 231). Das<br />

Gegensatzpaar Tod – Leben, im letzten Satz des Kapitels wiederholt, trägt diesmal die<br />

Hoffnung, den Tod zusammen mit dem Ende Sanchers zurückzulassen: „Ma vraie vie<br />

commence avec sa mort“ (Traversée 231). Das Wasser der Schlucht, das Mira über ihre<br />

Einsamkeit hinwegtröstete, steht jetzt folglich unter dem Signum des Todes und der Sterilität,<br />

denn das wirkliche Leben beginnt erst, nachdem sie sich von ihrem illusorischen<br />

Vereinigungszwang lösen kann.<br />

23 Obsession deshalb, weil zweimal ihre Gedanken an die Ravine mit „Il faut descendre à la Ravine“ einsetzen<br />

(Traversée 49, 50). Auch hier also die Dualität von zwanghaftem Glück.

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