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Eine Romanwelt der Gegensätze: Gisèle Pineau 219
Einsamkeit und Selbsteinschränkung findet man ihn nicht nur bei Clothilde, die ihn von ihrer
Großmutter Néhémie geerbt hat 18 , sondern auch in der Jackentasche des toten Michaels.
Das Vogelmotiv verbindet die zwei Haupthandlungsstränge des Romans. Während der
eine Teil des Romans, wie bereits erwähnt wurde, die Erinnerungen Sybilles darstellt, ist der
zweite Handlungsstrang dem Leben von Sybilles älterer Freundin Lila gewidmet, bei der
Sybille und ihr Sohn Marcello in Paris Unterschlupf gefunden haben. Lila erzählt mit
Vorliebe aus ihrem Leben, das sie mit etlichen Männern teilte. Am Ende des zweiten
Weltkriegs lernte sie den Schwarzen Henry kennen. Henry stammt von Saint-James, wo seine
Mutter Jenny den Haushalt der reichen weißen Familie Mac Dowell führt. Sie und der Sohn
der Mac Dowells lieben sich trotz Jennys Verlobung mit Michael und bekommen zusammen
Henry, der jedoch im Glauben aufwächst, Michaels Sohn zu sein. Michael hatte sich erhängt,
als er den Betrug seiner Verlobten erfuhr. Der tote Vogel, der in der Tasche des toten Michael
gefunden wurde, greift die Legende zweier Liebenden auf, die auf Mac Dowells Gut zur Zeit
der Sklaverei gewaltsam voneinander getrennt werden sollten und sich daher den Tod gaben.
Ihre Liebe war der Legende zufolge zu groß, um mit den Liebenden zu sterben, so dass Gott
ihre Liebe in die Seele eines Vogels verwandelte. Das Pendant zum toten, eingetrockneten
Vogel bilden die Vögel, die Mrs. Mac Dowell in einer Voliere hält. Als Henry von seiner
wahren Abstammung erfährt, zerstört er den Käfig und lässt die Vögel entfliehen. Jahre später
folgt sein eigener Ausbruchsversuch, der ihn nach New York und schließlich nach Paris führt.
Verdeutlicht das Motiv des Austrocknens und Verdorrens der Vögel und Blumen in
einer recht trivialen und übertrieben häufigen Symbolik die Selbstaufgabe und das Unglück
der Romanfiguren 19 , so führt der Roman auch das positive Gegenbild vor. Henry, der von
Lila zurückgewiesen wurde, verlässt zusammen mit dem gemeinsamen Sohn James-Lee Paris
und lässt sich New York nieder. Er übt eine starke Anziehung auf Vögel aus 20 . In New York
findet er einen Laden mit einem angrenzenden Innenhof, in dem unzählige Vögel frei
herumfliegen, und eröffnet ein Restaurant. Als Sybille und Lila nach New York fliegen, um
Henry zu besuchen, finden die beiden Stränge der Vogelmetaphorik zusammen, denn Sybille
und James-Lee verlieben sich ineinander: „Et puis, nous avions partagé nos histoires
18 Néhémies Vogel starb mit einer vertrockneten Rosenknospe im Schnabel (Âme 63). Indem Pineau das Motiv
der Vertrocknung verdoppelt, wirkt die Symbolik besonders überzeichnet.
19 Cf. beispielsweise Marcellos Forderung, kein Vogel im Käfig sein zu müssen (Âme 108), oder Sybilles
Alptraum, ein Vogel im Käfig zu sein (Âme 190). Auch die Deportation der Juden aus dem besetzten Paris wird
anhand des Vogelmotivs beleuchtet: Ihre Vögel gehen in den zurückgelassenen Käfigen ein (Âme 90, 93). Im
Vergleich zur Tragweite der Judendeportation erscheint die wiederholte Bedauerung der zuhause sterbenden
Zimmervögel recht geschmacklos.
20 Cf. Âme 149.