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Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg

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Das Romanwerk von Jacques Stephen Alexis 93<br />

3.7.1 Der Blick durch das Fenster: die Entwicklung Diogènes<br />

Die Antithese zu den natur- und erdverbundenden Voudoupriestern, die sich auf den nackten<br />

Boden setzen, bildet Diogènes entfremdeter Zugang zu seiner Heimat. Sein Verrat an der<br />

„terre natale“ spiegelt sich in seinem Abstand zur Erde wider. Blickt er in die Natur, dann<br />

geschieht dies in gebändigter und kontrollierter Form: Er nimmt die Natur durch das Fenster<br />

wahr. Durch die Umrahmung entsteht eine Stilisierung, die Künstlichkeit und ästhetische<br />

Inszenierung suggeriert. Die Natur wird auf den Ausschnitt des Fensterrahmens verkleinert,<br />

beschnitten und beschränkt. Diogènes gewaltsamer Angriff auf La Remembrance und die<br />

anderen hounforts der Gegend kündigen sich in seiner Naturwahrnehmung bereits an. Auch<br />

sein Vorgesetzter, der Erzbischof, betrachtet die Natur durch das Fenster:<br />

Sous les raies d’ombre que projettent les persiennes, monseigneur l’Archevêque,<br />

couché dans un lit empire trop étroit, paré d’une monumentale chemise brodée,<br />

joue à l’hybride de phoque et de zèbre. Il veille. […] Le petit matin était là,<br />

insinuant à travers les persiennes, tremblant. (Arbres 31)<br />

Die Außenwelt wird durch die Jalousien in Streifen geschnitten. Die Natur selbst scheint<br />

angesichts des Erzbischofs eingeschüchtert 58 : Sie zittert. Alexis verwendete das Motiv des<br />

Fensterblicks bereits in Compère Général Soleil, um in der Ferne zur Natur auch die Ferne<br />

zum Volk auszudrücken. Dort betrachtete der despotische Präsident Vincent von seinem<br />

Regierungsgebäude aus Beton den Küstenstreifen vor Port-au-Prince. Die Natur inspiriert ihn<br />

zu dem ersten Satz einer Rede, die er im Radio zur Beruhigung des aufgebrachten Volkes<br />

halten will: „Il se mit à déclamer: ‚Ces montagnes d’azur qui chaque matin se cuirassent de<br />

soleil pour monter à l’assaut des ciels plus proches…’“ (Compère 218). Seine<br />

Naturwahrnehmung ist in erster Linie von Agressivität und Gewaltbereitschaft geprägt. 59<br />

Bevor Diogène das Amt in Fonds-Parisien annimmt, zweifelt er an der Richtigkeit<br />

seines Vorhabens. Sein Bruder Carles macht ihm Vorwürfe. Es gehe Diogène gar nicht um<br />

das Seelenheil der Gemeinde, sondern nur um seinen Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie.<br />

Diogène habe, so Carles, ein romantisches Verständnis vom Landleben. Doch er werde kein<br />

„petit coin de campagne odoriférante“, kein „paradis perdu“ (Arbres 36) vorfinden. Noch ist<br />

sich Diogène nicht sicher, ob er durch seine Priesterschaft sein Land nicht verrät und im<br />

Dienst einer „mission civilisatrice“ (Arbres 59) steht, die er selbst in Anführungszeichen setzt<br />

und anzweifelt. Seine Körperhaltung, „face contre terre“, verrät, dass seine Verbundenheit zur<br />

58 Die Assoziation von Fenstermotiv und Erzbischof wiederholt sich in Les Arbes musiciens ein weiteres Mal:<br />

„C’était une lettre de l’archevêché. Diogène s’avança vers la fenêtre, l’ouvrit pour faire entrer le jour, rompit<br />

précipitamment le pli et se mit à lire la missive de son archevêque.“ (Arbres 264).<br />

59 Dies gibt nicht nur die Brutalität der Herrschenden wider. Da die Natur die erste Verbündete des Volkes ist,<br />

scheint sie dem Präsidenten die wachsende Aggression der Bevölkerung anzuzeigen.

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