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Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg

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Raphaël Tardons La Caldeira und Raphaël Confiants Nuée ardente 129<br />

unterirdischen Gefängniskerker, wo der Kleinkriminelle Syparis, eben jener einzige<br />

Überlebende des Ausbruchs, auf die Vollstreckung der Todesstrafe wartet.<br />

Im Moment des Ausbruchs befindet sich Syparis im unterirdischen Kerker. Plötzlich<br />

bricht die Erinnerung aus ihm hervor. Das Erd-Innere bedingt das Er-Innern: „Pourquoi tout<br />

cela irruptionne-t-il maintenant, alors que je n’ai plus que quelques heures à vivre“ (Nuée<br />

310f) 22 , fragt sich Syparis. Sein Gedächtnis dringt auf ihn ein und trägt ihn fort in vergangene<br />

Zeiten, in den Bauch der Mutter:<br />

J’imaginais des dieux féroces dont les gueules vomissaient des coulées de lave,<br />

armés de lances et d’épées, tournant et hurlant au-dessus de Saint-Pierre, prêts à<br />

l’anénantir nettement-et-proprement. Je voulus réciter le Notre Père mais ne pus<br />

en dépasser les premiers mots, car ma mémoire commençait à défaillir. Ou plutôt<br />

elle dévirait en arrière avec un ballant vertigineux, me ramenait à un âge dont je<br />

croyais n’avoir jamais eu conscience. La rage du volcan et des dieux africains<br />

mêlés me ramenait dans le ventre de ma mère! (Nuée 309)<br />

Er erinnert sich daran, wie seine hochschwangere Mutter im Zuckerrohr von einem Aufseher<br />

vergewaltigt wird, und empfindet Reue für seinen Mord an der untreuen Lebensgefährtin<br />

Firmine. Im Aufglühen des Vulkans blitzt für eine Sekunde die Vergangenheit auf, das<br />

Verdrängte und Vergessene kommt zum Vorschein und wird wie die Lava aus dem Inneren<br />

und Unterbewussten hervorgeschleudert. Das Ausbrechen des Vulkans (éruption) wird zum<br />

Moment des Hereinbrechens der Memoria (irruption), zum Moment der Wahrheit.<br />

Diese Wirkung des Ausbruchs auf die Psyche der Bewohner Saint-Pierres wurde von<br />

Lafrique, einem alten Schwarzen, der für geistig umnachtet gilt, seit langem vorausgesagt. Er<br />

sieht im drohenden Untergang den Zorn der afrikanischen Götter und der Vorfahren, die von<br />

seinen Zeitgenossen, „nègres de peu de mémoire“ (Nuée 115), vergessen und verdrängt<br />

wurden: „Ma vérité est dans mon nom et c’est ce qu’ils refusent d’admettre.“ (Nuée 244). Das<br />

Vergessen ist somit nicht nur als individuelle Reaktion zu verstehen, sondern als kollektiver<br />

Prozess der Verleugnung und Abkehr von den afrikanischen Wurzeln. Lafriques Wissen um<br />

den Zorn der Vorfahren geht aus einem Einheitserlebnis mit der Natur hervor. Im Garten der<br />

Nervenheilanstalt steht ein alter Baum, der sich weder fällen noch verbrennen lässt. Statt den<br />

Baum zu verehren, verrichten die Insassen der Heilanstalt dort jeden Morgen ihre Notdurft. Er<br />

trägt zum Erstaunen der Botaniker das ganze Jahr über reiche und übergroße Frucht, die<br />

jedoch niemand anzurühren wagt. Sogar die Vögel verschmähen die Früchte. Weil niemand<br />

die Früchte des alten Baumes pflückt und isst, bleibt auch die Erkenntnis seines Geheimnisses<br />

aus. Ein ähnliches Motiv findet sich in einer anderen Stelle des Romans: Im Schulhof des<br />

collèges für weiße Kinder steht ein weiterer Baum. Es wurde seitens der Schulleitung<br />

22 Raphaël Confiant, Nuée ardente (Paris: Mercure de France, 2002). Hier und im Folgenden werden Zitate mit<br />

der Abkürzung Nuée und der jeweiligen Seitenzahl gekennzeichnet.

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