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Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg

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Eine Romanwelt der Gegensätze: Gisèle Pineau 202<br />

8 Eine Romanwelt der Gegensätze: Gisèle Pineau<br />

8.1 Der Wirbelsturm und die Verwüstung der Körperlandschaft<br />

Im Erscheinungsjahr von Daniel Maximins L’Île et une nuit veröffentlicht Gisèle Pineau,<br />

ebenfalls von der Insel Guadeloupe stammend, ihren zweiten Roman, L’espérance-macadam<br />

(1995). Beide Romane, so stilistisch wie strukturell unterschiedlich sie auch sind, weisen<br />

prägnante thematische Gemeinsamkeiten auf. Maximin und Pineau greifen auf das Motiv des<br />

Wirbelsturms zurück, dessen Bedrohung für die Romanfiguren über die rein physische<br />

Gefahr, durch den Wind körperliche Unversehrtheit und Besitz zu verlieren, hinausgeht und<br />

zur Metapher größter Seelennot und gewalttätiger Einflussnahme auf Körper und Geist wird. 1<br />

Bei Maximin lag die Gefahr des Zyklons für seine Protagonistin Marie-Gabriel darin, dass der<br />

Stress der äußerlichen Ausnahmesituation psychische Verletzungen zum Vorschein brachte,<br />

die im alltäglichen Normalzustand verdeckt geblieben wären. Dem Zyklon kam die Rolle zu,<br />

den schmerzhaften Verlust der Mutter in Erinnerung zu rufen. Die Verbindung von<br />

Wirbelsturm und der wiedererlangten Erinnerung war insofern kausal, als der Tod der Mutter<br />

bei Marie-Gabriels Geburt von den Verletzungen durch den erzwungenen Abbruch ihrer<br />

ersten Schwangerschaft herrührte, wobei die Abtreibung durchgängig mithilfe der Metapher<br />

des Zyklons umschrieben worden war. Als Marie-Gabriel diese Urszene während des<br />

Wirbelsturms in L’Île et une nuit durchlebt und ins Kindesalter, das Alter der höchsten<br />

Verletzlichkeit, regrediert, nimmt für sie die psychische und körperliche Bedrohung des<br />

Sturms die Formen der bête-à-sept-têtes an: Zyklon und Bestie verkörpern den gewaltsamen<br />

Eingriff in das eigene Leben.<br />

In L’espérance-macadam kommt der gleiche Mechanismus der Verknüpfung der<br />

äußerlichen Erscheinung des Sturms mit einem gewaltsamen Übergriff auf die Körperlichkeit<br />

der Romanfiguren zum Tragen. Im Zentrum des Geschehens stehen Eliette, eine ältere Frau,<br />

und das junge Mädchen Angela, die in Savane-Mulet wohnen und dort benachbart sind. Am<br />

Beginn des Romans schweift Eliettes Blick über die Verwüstung, die der Zyklon Hugo in<br />

Savane-Mulet hinterlassen hat: „Restait rien de bon. Que des immondices. Y avait pas même<br />

une planche debout, une tôle en place. Vestiges de cases. Souvenirs de chemins qui perçaient<br />

au cœur de Savane.“ 2 (Espérance 7). Kein Haus steht mehr, überall liegen Trümmerteile und<br />

entwurzelte Bäume, auf dem Viertel liegt der üble Geruch des Verfalls: „Senteurs de vie et de<br />

mort embrassées. Encens de putréfaction. Effluves traîtres et menteurs que ramenaient tous<br />

1 Neben dem gemeinsamen Motiv des Wirbelsturms findet man bei Pineau ebenfalls vermehrt die Themen des<br />

Verstummens, der mangelnden Ausdrucksfähigkeit und der Flucht in den Wahnsinn.<br />

2 Gisèle Pineau, L’espérance-macadam (Paris: Stock, Collection Le livre de poche, 1995). Hier und im<br />

Folgenden werden Zitate mit der Abkürzung Espérance und der jeweiligen Seitenzahl gekennzeichnet.

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