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DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

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Und eine Zeit, eine Lebens-, eine Existenzperiode aufzuschreiben, gleich, wie weit sie<br />

zurückliegt, und gleich, wie lang oder kurz sie gewesen ist, ist eine Ansammlung von<br />

Hunderten und von Tausenden und von Millionen von Fälschungen und Verfälschungen,<br />

die dem Beschreibenden und Schreibenden alle als Wahrheiten und als nichts als<br />

Wahrheiten vertraut sind. Das Gedächtnis hält sich genau an die Vorkommnisse und hält<br />

sich an die genaue Chronologie, aber was herauskommt, ist etwas ganz anderes, als es<br />

tatsächlich gewesen ist. Das beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem<br />

Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit<br />

ist überhaupt nicht mitteilbar. […] Wir müssen sagen, wir haben nie etwas mitgeteilt, das<br />

die Wahrheit gewesen wäre, aber den Versuch, die Wahrheit mitzuteilen, haben wir<br />

lebenslänglich nicht aufgegeben. […] Die Wahrheit, die wir kennen, ist logisch die Lüge,<br />

die, indem wir um sie nicht herumkommen, die Wahrheit ist. Was hier beschrieben ist, ist<br />

die Wahrheit und ist doch nicht die Wahrheit, weil es nicht die Wahrheit sein kann. […] Ich<br />

habe zeitlebens immer die Wahrheit sagen wollen, auch wenn ich jetzt weiß, es war<br />

gelogen. Letzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an.“ (Ke 37-39)<br />

Das komplexe Geflecht autobiographischer Texte wird hier in Ansätzen näher gebracht: die<br />

Fälschung, die doch keine ist, weil sie dem Autor als Wahrheit erscheint; die Inkongruenz von<br />

Erlebtem und Niedergeschriebenem; der Wille zur Wahrheit, der niemals ganz realisiert wird,<br />

da die Wahrheit gar nicht vermittelt werden kann; die Gleichsetzung von Wahrheit und Lüge<br />

und die Erkenntnis vom Wahrheitsgehalt der Lüge. In dieser Verschlungenheit können<br />

Kategorien wie Wahrheit und Lüge nicht mehr eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Sie<br />

sollen deshalb auch nicht auf die Autobiographie Bernhards angewandt werden und eignen<br />

sich nicht <strong>für</strong> ihr umfassendes Verständnis. 67<br />

Ebenso wenig können die fünf Bände als eine Art Interpretationsschlüssel aufgefasst werden.<br />

Bereits unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes glaubten<br />

LiteraturwissenschaftlerInnen darin eine Möglichkeit zu sehen, zum einen die davor<br />

erschienenen Werke zu enträtseln, zum anderen der Person und Psyche Thomas Bernhards auf<br />

die Schliche zu kommen. 68 Nahezu jede Autobiographie birgt diese Verlockung in sich und<br />

kennzeichnet damit den „beliebteste[n] Kurzschluß der hermeneutischen Praxis“ 69 . Im Falle<br />

von Thomas Bernhard ist zudem ein Mangel an außerliterarischen Quellen und Dokumenten<br />

zu bestimmten Lebensabschnitten zu beklagen, der einen Rückgriff auf die Autobiographie<br />

nahezu provoziert. Der Trugschluss einer Gleichsetzung von erinnerter, literarisch<br />

verarbeiteter und tatsächlicher, an Fakten belegbarer Biographie zeigt sich jedoch auch und<br />

67 Vgl. ebd., S. 108.<br />

68 Vgl. ebd., S. 105.<br />

69 Schmidt-Dengler, Wendelin: „Auf dem Boden der Sicherheit und Gleichgültigkeit.“ Zu Thomas Bernhards<br />

Autobiographie 'Der Keller'. In: Amann, Klaus und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der<br />

österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck, <strong>Wien</strong>: StudienVerlag<br />

1998. (Schriftenreihe Literatur des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Österreichkunde 3), S. 217-239, S. 229.<br />

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