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DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

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Der Tagesablauf scheint unverändert, die Auswirkungen auf das Ich gestalten sich als<br />

weiterhin fatal, der „institutionalisierte Sadismus [ist] der gleiche geblieben“. 274<br />

Es hatte alles nur einen anderen Anstrich und alles hatte nur andere Bezeichnungen, die<br />

Wirkungen und die Auswirkungen waren die gleichen gewesen. Jetzt pilgerten wir ganz<br />

einfach gleich nach der ebenso wie in der Nazizeit unergründlichen Reinigungsprozedur in<br />

die Kapelle, um die Messe zu hören und um die Heilige Kommunion zu empfangen,<br />

genauso wie in der Nazizeit in den Tagraum, um die Nachrichten und die Instruktionen des<br />

Grünkranz zu hören, sangen jetzt Kirchenlieder, wo wir vorher Nazilieder gesungen hatten,<br />

und der Tagesablauf gestaltete sich auf katholisch als der gleiche im Grunde<br />

menschenfeindliche Züchtigungsmechanismus wie der nationalsozialistische. Hatten wir in<br />

der Nazizeit vor den Mahlzeiten an den Speisesaaltischen strammgestanden, wenn der<br />

Grünkranz >Heil Hitler< gesagt hatte zu Beginn der Mahlzeiten, […] so standen wir jetzt<br />

in ebensolcher Haltung an den Tischen, wenn der Onkel Franz >Gesegnete Mahlzeit< sagte<br />

[…]. (Ur 97-98)<br />

Die Parallelen in der Tagesstruktur werden hier noch einmal zusammengefasst, wesentlich<br />

stärker werden jedoch die spezifisch katholischen und nationalsozialistischen Aspekte<br />

hervorgehoben. Es macht <strong>für</strong> das Ich demnach keinen gravierenden Unterschied, ob nun die<br />

heilige Messe oder die politisch motivierten Instruktionen des Grünkranz gehört werden, ob<br />

nun Kirchen- oder Nazilieder gesungen, „Heil Hitler“ oder „Gesegnete Mahlzeit“ gewünscht<br />

wird. Es bleiben austauschbare Rituale, in ihrer Intention und Wirkung identisch. Und auch<br />

der<br />

jetzt jeden Tag und also annähernd dreihundertmal im Jahr geschluckte und verschluckte<br />

Leib Christi war auch nichts anderes gewesen als die tagtägliche sogenannte<br />

Ehrenbezeigung vor Adolf Hitler, jedenfalls hatte ich, abgesehen davon, daß es sich hier<br />

um zwei vollkommen verschiedene Größen handelt, den Eindruck, das Zeremoniell sei in<br />

Absicht und Wirkung das gleiche. (Ur 98-99)<br />

Der Erzähler verhöhnt das Sakrament der Eucharistie mit dieser Aussage gleich doppelt. Zum<br />

einen wird der mystische Vorgang der Transsubstantiation mit der trockenen und spöttischen<br />

Formulierung „geschluckte[r] und verschluckte[r] Leib Christi“ umschrieben, die im<br />

katholischen Glauben übertragene Bedeutung der Hostie als Leib Christi, schließt der<br />

Erzähler hier kurz und erzeugt einen ironischen Unterton. Zum anderen wird die Kommunion<br />

– im Stil der vorherigen Gleichsetzung von Handlungen – mit der Ehrenbezeigung vor Adolf<br />

Hitler gleichgesetzt und damit einmal mehr herabgewürdigt. Ob man anhand dieser Textstelle<br />

bzw. der generell konstatierten Austauschbarkeit nationalsozialistischer und katholischer<br />

Gegenstände und Handlungen den Vorwurf der Blasphemie gegen Bernhard erheben kann,<br />

274 Vgl. Langer, Renate: Hitlerbild und Kreuz, S. 21.<br />

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