DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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Großmutter, die als „leidenschaftliche Friedhofsgängerin und vor allem Leichenhallen- und<br />
Aufbahrungsbesucherin“ bezeichnet wird und „von den aufgebahrten Toten immer fasziniert<br />
gewesen“ (Ur 46) war. Diese Schwärmerei konnte sie wohl tatsächlich auf das Erzähler-Ich<br />
übertragen, denn dieses meint selbst:<br />
[…] wahrscheinlich hatte ich die zugegeben immer große eigene Faszination <strong>für</strong> die<br />
Friedhöfe und auf den Friedhöfen von meiner Großmutter, die mich in nichts mehr<br />
geschult hat als in Friedhofsbesuchen und in der Betrachtung und Anschauung der Gräber<br />
und in der intensiven Betrachtung und Beobachtung der Aufgebahrten. (Ur 47)<br />
Friedhofsgänge und Visiten in der Aufbahrungshalle ohne erkennbaren Anlass und ohne die<br />
verstorbenen Personen überhaupt gekannt zu haben stellten somit <strong>für</strong> das Kind keine<br />
Seltenheit dar, das autobiographische Ich berichtet von regelmäßigen Besuchen, „wöchentlich<br />
mehrere Male“ (Ur 47). Damit verbunden ist auch der oft auch sehr nahe Kontakt mit den<br />
Leichen, der das Kind früher noch ängstigte:<br />
[…] sie [die Großmutter, Anm.] hatte mich aber doch immer nur mit ihrem Hochheben<br />
meiner Person zu den aufgebahrten Toten hin geängstigt, ich sehe sehr oft heute noch, wie<br />
sie mich in die Leichenhallen hineinführt und mich hochhebt zu den aufgebahrten Toten<br />
und so lange hochhebt, als sie es aushalten hat können, immer wieder ihr siehst du, siehst<br />
du, siehst du und so lange hochgehalten hat, bis ich geweint habe […]. (Ur 46-47)<br />
Diese Erlebnisse hinterließen zweifellos einen tiefen Eindruck, die Angst schlägt in späteren<br />
Jahren aber in die bereits erwähnte Faszination um.<br />
Aufbahrung wird jedoch nicht nur in der Leichenhalle beschrieben, sondern ebenso als Akt<br />
aufgezeigt, der sich im Zuhause des Verstorbenen vollzieht. Dazu schildert der Erzähler das<br />
Totenritual, wie es sich im ländlichen Seekirchen vollzogen hat. Detailliert wird dabei der<br />
Anblick der Aufgebahrten ausgeführt – bis auf den abstoßenden Geruch bleibt die Gefühls-<br />
und Sinnesebene des Ichs aber ausgespart und die Beschreibung wirkt, obgleich makaber und<br />
gruselig, dennoch einigermaßen nüchtern:<br />
Begräbnisse begannen im Hause des Verstorbenen, der Tote war zwei oder drei Tage in<br />
seinem Vorhaus aufgebahrt, bis ihn der Leichenzug abholte, zuerst in die Kirche, dann auf<br />
den Friedhof. […] Die aufgebahrten Toten hatten entstellte Gesichter, von ausgeflossenem<br />
und dann vertrocknetem Blut sehr oft verunstaltet. Es nützte oft nichts, das Kinn an den<br />
übrigen Kopf zu binden, es blieb unten, und der Beobachter starrte in die finstere<br />
Mundhöhle. Die Aufgebahrten lagen im Sonntagsanzug da, die Hände um einen<br />
Rosenkranz gefaltet. Der Geruch des Toten und der Kerzen, die zu beiden Seiten seines<br />
Kopfes aufgestellt waren, war süßlich, abstoßend. (Ki 85-86)<br />
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