DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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Es bleibt zu vermerken, dass sich der Erzähler einer offensiven Kritik verwehrt. Wie auch<br />
schon vorherige Textbeispiele erkennen lassen, so verbleibt der Erzähler in der bloßen<br />
Schilderung. Er hält sich zurück, kommentiert und urteilt nicht direkt. Eine kritische Aussage<br />
wird sehr wohl ersichtlich, setzt sich allerdings erst im/in der LeserIn zusammen. Im zuletzt<br />
angeführten Zitat arbeitet der Erzähler mit Kontrasten und einer fast schon karikaturesken<br />
Komik, die die Tragik der Situation nur noch offensichtlicher macht. Die Schwestern kehren<br />
dem Elend wortwörtlich den Rücken zu – allein mit diesem Bild tätigt der Erzähler einen<br />
eindeutigen Vorwurf. Die Kirche geht Konflikten aus dem Weg, verweigert sich Problemen,<br />
übt sich in Passivität und hält nur vordergründig und scheinheilig ihre schützende Hand über<br />
die Armen und Kranken – Aussagen, die durch die Flucht der Kreuzschwestern vor dem<br />
kollektiven Hustenanfall illustriert werden.<br />
Obgleich Kreuzschwestern und Vinzentinerinnen unterschiedliche Namen tragen, so treten sie<br />
doch gleichermaßen als Gemeinschaften unter der Bezeichnung und dem Muster der<br />
Barmherzigen Schwestern auf. Diese weibliche Kongregation ist im sozialen und karitativen<br />
Bereich tätig und konnte vor allem im 19. und 20. Jahrhundert das Prestige der Kirche in der<br />
Öffentlichkeit heben. Die Schwestern handelten aus der Nachfolge Jesu und<br />
institutionalisierten damit die christliche Nächstenliebe. 209 Gerade diese Gesinnung erfährt in<br />
der Autobiographie keine Bewahrheitung und wird, wie an mehreren Textbeispielen gezeigt,<br />
ins Negative verkehrt. Sie wirkt unglaubwürdig und geheuchelt. Barmherzigkeit gestaltet sich<br />
in der theologisch-ethischen Definition als<br />
jene Form der Liebe, die sich spontan u. unbedingt einem anderen zuwendet, der ohne bzw.<br />
durch eigene od. fremde Schuld in Not geraten ist u. sich selbst nicht daraus befreien kann.<br />
Der Barmherzige leidet u. solidarisiert sich mit einem solchen Menschen u. versucht, alles<br />
zu beseitigen, was dessen Selbstentfaltung verunmöglicht. 210<br />
Stellt man nun die Charakterisierung der geistlichen Schwestern diesem eben angeführten<br />
Wesen christlicher Barmherzigkeit gegenüber, so treten Unvereinbarkeit und Inkongruenz<br />
überdeutlich hervor.<br />
Ähnliche Töne schlägt auch Reger in Alte Meister an und versteht Barmherzigkeit als<br />
vollkommen inkompatibel mit dem Auftritt der katholischen Kirche in der Gesellschaft. Da<br />
209 Vgl. Kasper, Walter (Hg.): Lexikon <strong>für</strong> Theologie und Kirche. Bd. 2. Begr. v. Michael Buchberger. 3., völlig<br />
neu bearbeitete Auflage. Freiburg, Basel u.a.: Herder 1994, Sp. 12.<br />
210 Ebd., Sp. 15-16.<br />
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