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DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

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derjenige, der die Kinder anführte und die Fahne mit der aufgemalten Mutter Maria trug.“ (Ki<br />

92) Die Rolle als Fahnenträger steht hier nicht in Verbindung mit erhöhter Religiosität,<br />

sondern soll die Führerposition des Erzähler-Ichs beglaubigen und hervorheben. Die<br />

Prozession an sich wird dabei nicht weiter thematisiert, der Leser wird lediglich darüber<br />

informiert, dass sich die Prozession im Zuge des Fronleichnamsfestes vollzogen hat und<br />

Fahnen zum Einsatz gekommen sind. Trotzdem ist die Nennung dieses Erlebnisses von<br />

Bedeutung, da hier ein tatsächlich erlebtes katholisches Ritual erinnert wird, an dem in diesem<br />

Falle sogar aktiv und mit Vergnügen partizipiert wurde.<br />

Anders verhält es sich bei der Beschreibung des Prozessionszuges in Die Kälte. Bernhard<br />

versetzt das Bild der Prozession dabei in einen völlig divergierenden Raum, transponiert es in<br />

einen anderen Zusammenhang, eine entgegengesetzte Atmosphäre und „erzielt so<br />

Verfremdung“ 193 . Der tägliche Gang der Tuberkulosepatienten zur Liegehalle wird als<br />

Prozession inszeniert. Das dabei erzeugte Bild enthält eine neue und zutiefst befremdliche<br />

Wirkungskraft. Tragik und Armseligkeit der Szene werden verstärkt:<br />

Eine Prozession fand hier statt, die auf der Liegehalle endete, in einer Feierlichkeit, wie ich<br />

sie bis dahin nur bei katholischen Begräbnissen konstatiert hatte, jeder Teilnehmer an<br />

dieser Prozession trug seine eigene Monstranz vor sich her: die braune Glasspuckflasche.<br />

(Kä 9)<br />

Mehrere Aspekte drängen sich hier auf engem Raum zusammen. Nicht nur die<br />

Zusammenführung von katholischer und todeserfüllter Atmosphäre irritiert, auf einer weiteren<br />

Ebene werden durch die Assoziation des Erzähler-Ichs mit katholischen Begräbnissen und die<br />

Erwähnung der Monstranz, unterschiedliche Arten von Prozessionen, wie es sie in der<br />

katholischen Tradition gibt, vermischt: Trauerzug und Fronleichnamsumzug werden<br />

gleichermaßen impliziert und damit der Tod mit dem „Hochfest des Leibes und Blutes<br />

Christi“, bei dem der „lebendige Leib“ (vron = Herr, lichnam = lebendiger Leib) 194 gefeiert<br />

wird, zueinander in Bezug gesetzt. Die morbide Dimension der Szene hat dennoch ungleich<br />

mehr Gewicht: Nicht das Leben, sondern die Todeskrankheit wird zelebriert – dies aber mit<br />

demselben Pathos. Prunk und Feierlichkeit katholischer Prozessionen werden bei Bernhard<br />

auf eine jämmerliche und primitive Ebene heruntergebrochen und der katholische Ritus damit<br />

gleichzeitig parodiert. Übrig bleibt ein Trupp schlurfender und spuckender<br />

193 Vitovec, Barbara: „Simili modo“, S. 78.<br />

194 Berger, Rupert: Neues pastoralliturgisches Handlexikon. Freiburg im Breisgau, <strong>Wien</strong> u.a.: Herder 1999, S.<br />

153.<br />

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