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DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

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vollständiges und harmonisches, gerade dadurch aber verlogenes Bild, wie es ein<br />

gewöhnlicher Gottesdienst darstellt, zerschlagen zu wollen und weitaus mehr Anregung in<br />

dem düsteren Wirken eines Begräbnisses zu finden.<br />

Dieser Aspekt korrespondiert mit einer Passage am Anfang desselben Romans. Der Erzähler<br />

huldigt dabei seinem Großvater bzw. den Großvätern im Allgemeinen, denn sie sind es die<br />

„seit Jahrtausenden den Teufel [erschaffen], wo ohne sie nur der liebe Gott wäre. Durch sie<br />

erfahren wir das ganze vollkommene Schauspiel, nicht nur den armseligen verlogenen Rest<br />

als Farce.“ (Ki 24) Die Grundessenz dieser Aussage ist also, dass es einen Gegenpol braucht.<br />

Der Erzähler lässt sich durch die Vorstellung eines lieben Gottes als alleinige übernatürliche<br />

Instanz nicht zufriedenstellen, er qualifiziert sie als ungenügend und geheuchelt. Es bedarf<br />

einer kritischen Hinterfragung, um an der „trostlosen Dürftigkeit“ nicht zu ersticken (Ki 24).<br />

Die Verlogenheit nicht einfach hinnehmen, sondern aufspalten, zersetzen; erst dann besteht<br />

die Möglichkeit, das Ganze, das „vollkommene Schauspiel“, erfassen zu können, wobei auch<br />

hier der Begriff „Schauspiel“ angeführt und damit die tatsächliche Vollkommenheit dieses<br />

Weltverständnisses wieder relativiert wird. Der Begriff verweist in diesem Kontext zudem auf<br />

ein weiteres typisches Thema im Bernhardschen Kosmos, nämlich das Verständnis von der<br />

Welt als einziger großer Bühne. 219<br />

Die mystischen Totenmessen konnten das Kind noch faszinieren, spätere<br />

Begräbnisschilderungen in der Autobiographie verlieren jedoch diese Dimension und zielen<br />

auf eine gesellschafts- und kirchenkritische Aussage ab. Gemeint sind damit zum einen die<br />

Berichte über die Bestattung von Selbstmördern und zum anderen das turbulente Prozedere<br />

rund um die Beisetzung des Großvaters.<br />

Der Erzähler verurteilt den verächtlichen Umgang von Stadt und Kirche mit jugendlichen<br />

Selbstmördern, „in dieser streng katholischen Stadt sind diese jungen Selbstmörder natürlich<br />

nicht begraben worden, sondern nur unter den deprimierendsten, menschenentlarvendsten<br />

Umständen verscharrt.“ (Ur 21) Diese Ereignisse haben nichts mehr mit einem feierlich<br />

begangenen Totenritual zu tun, sie werden als „Verlegenheitsbegräbnisse“ (Ur 21) bezeichnet,<br />

das Grab wandelt sich zur „Verscharrstelle“ (Ur 21). Das Erzähler-Ich zieht hier die<br />

Darstellung eines solchen Begräbnisses primär deshalb heran, um die Missstände in der Stadt<br />

aufzuzeigen, an denen Politik und Kirche alleinige Schuld tragen und somit auch die Opfer<br />

219 Vgl. Höller, Hans: Thomas Bernhard, S. 99.<br />

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