DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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zu spüren bekommen“ (Kä 85-86). Der Erzähler ist den Schwestern vollständig ausgeliefert<br />
und muss sich unterwerfen. Anstatt Fürsorge und Geborgenheit versprühen die Schwestern bei<br />
den Patienten Angst.<br />
Die Bevorzugung einzelner Patientengruppen bleibt jedoch nicht nur an den Besuch der<br />
Messe gebunden, auch eine adelige Herkunft oder akademische Bildung, erkennbar durch das<br />
Tragen eines Titels, versprechen eine bessere, respektvollere Behandlung. Die Schwestern<br />
differenzieren zwischen „normalen“ Patienten und der Gruppe der Hofräte, Professoren und<br />
Grafen (Kä 127):<br />
Die Schwestern huschten in einer mir widerwärtigen Feierlichkeit dort herum, wo diese<br />
Titel mit ihren Trägern hausten, abgeschirmt, in Ruhe gelassen, ja verwöhnt. Kamen die<br />
Schwestern von den Loggien der sogenannten besseren Leute zu uns, verfinsterten sich<br />
ihre Mienen, war ihre Redeweise eine vollkommen andere, eine nicht mehr um<br />
Vornehmheit bemühte, sondern nurmehr noch die rüde, gemeine, brutale. Ganz andere<br />
Speisen trugen sie in diese Zimmer, in einer ganz anderen, aufwendigeren Aufmachung.<br />
(Kä 127-128)<br />
Auffallend an dieser Beschreibung ist erneut das Wort „Feierlichkeit“, das bereits im Kontext<br />
der Prozession mit „perfide“ zusammengebracht wurde. Jetzt wird die Feierlichkeit als<br />
widerwärtig bezeichnet. Festzuhalten ist dabei, dass der Erzähler den Terminus „Feierlichkeit“<br />
in erster Linie dazu gebraucht, Scheinheiligkeit auszudrücken und ein von einer Gruppe<br />
zelebriertes Prozedere zu benennen, das vom Erzähler in seinen Grundfesten verurteilt wird.<br />
Unter den Augen der Schwestern ist hier keineswegs jeder Patient gleichrangig und verdient<br />
das Anrecht auf gleiche Behandlung, vielmehr unterstützen und tragen die geistlichen<br />
Schwestern eine Zwei-Klassen-Medizin. Sie orientieren sich an weltlichen Titeln und<br />
Positionen, halten ein ungerechtes System aufrecht und handeln dabei entgegen der<br />
christlichen Maxime, wie sie beispielsweise im Römerbrief formuliert steht und wonach es<br />
„bei Gott […] keinerlei Bevorzugung [gibt]“ 208 .<br />
Der karitative Charakter des Ordens und die ihm grundsätzlich eingeschriebene<br />
Barmherzigkeit und Fürsorge wird weiters negiert, wenn das Erzähler-Ich vom Ende des<br />
Gottesdienstes berichtet: „Am Ende der Messe war diese Kapellengesellschaft von einem<br />
ungeheuren, allgemeinen Hustenanfall erschüttert, aus welchem sich die Kreuzschwestern mit<br />
raschen Schritten entfernten.“ (Kä 86)<br />
208 Röm 2,11.<br />
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