Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Lake), ab 1815 bezog sich Stendhal regelmäßig auf den Erfinder des modernen<br />
historischen Romans. Danach explodierte sowohl die Zahl der Übersetzungen als<br />
auch die der französischen Nachahmungen. 1828 konnte der Kritiker Sainte-Beuve<br />
sagen, daß man in einer Zeit lebe, in der es selbst für die großen Talente notwendig<br />
sei, sich durch die Imitation Walter Scotts im Schreiben auszubilden, er sprach von<br />
„une époque où l’imitation de Walter Scott est presque une contagion nécessaire,<br />
même pour de très hauts talents“. 100 Sainte-Beuve sagt das 1828, und 1829 erscheint<br />
der erste Band dessen, was wenig später die Comédie Humaine werden sollte,<br />
nämlich Balzacs Roman Les Chouans über die gegenrevolutionären Aufstände in der<br />
Bretagne in den 1790er Jahren. Die Ähnlichkeiten mit Walter Scotts erstem<br />
Waverley-Roman sind auffällig. Wenn bei Scott der Widerstand der heroischen<br />
schottischen Clans gegen die englische Zentralmacht beschrieben wird, der mit dem<br />
großen Gemetzel von Culloden Moor von 1745 niedergeschlagen wurde, dann sind es<br />
bei Balzac die heldenhaften königstreuen Bretonen, die sich ab 1792 gegen die<br />
revolutionäre Zentralmacht wehren, bis sie in den großen Straffeldzügen der<br />
Revolutionsarmee niedergemacht werden. Ein ähnliches Szenario liegt James<br />
Fenimore Coopers Last of the Mohicans von 1826 zugrunde. Hier sind es die<br />
Mohikaner, die sich der Unterdrückung durch die weiße Kolonialmacht widersetzen.<br />
Auch Cooper hatte Scott gelesen, Balzac hatte sich an Scott und Cooper orientiert.<br />
Balzacs geniale Leistung in der endgültigen Fassung der Comédie humaine wird es<br />
dann sein, daß er sich vom Vorbild Scott emanzipiert und nicht mehr mehr oder<br />
weniger entfernte historische Perioden zum zeitlichen Rahmen seiner Romane<br />
macht, sondern die unmittelbare Gegenwart erfaßt, darüber aber so schreibt, als<br />
behandele er eine historisch entfernte Epoche. Darin kam Balzac Stendhal sehr nahe,<br />
der ebenfalls die Mittelalterstimmungen unerträglich fand und sowohl für Le Rouge<br />
et le Noir als auch für die Chartreuse de Parme auf die unmittelbare Zeitgeschichte<br />
zurückgriff.<br />
Weitere bekannte Scott-Nachfolger – die sich jeweils wieder für die kostümierte,<br />
entfernte Geschichte entscheiden – sind in Frankreich Alfred de Vigny, Victor Hugo<br />
oder Alexandre Dumas père. Vigny hatte schon 1826 mit seinem Roman Cinq-Mars<br />
ou une conjuration sous Louis XIII eine Geschichte aus dem französischen<br />
17. Jahrhundert im Stil Walter Scotts erzählt. Der Marquis de Cinq-Mars gerät darin<br />
in Konflikt mit dem allmächtigen Minister des Königs, dem Kardinal Richelieu. Als<br />
100 Sainte-Beuve, 1828.<br />
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