Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
ärmliche Versteck folgt, in dem sie mit einer weiteren ehemaligen Nonne und einem<br />
ehemaligen Priester lebt. Man erfährt, daß alle drei den antiklerikalen<br />
Ausschreitungen vom September 1792 nur knapp entkommen sind und nun fürchten,<br />
doch noch von der Polizei der Jakobiner entdeckt zu werden, was zu diesem<br />
Zeitpunkt, kurz nach der Enthauptung des Königs, mit ziemlicher Sicherheit ihren<br />
Tod bedeuten würde. Die alte Nonne berichtet den beiden anderen gerade von ihrem<br />
Verfolger, als im Treppenhaus Schritte zu hören sind. Als es an der Tür klopft,<br />
verstecken die beiden Nonnen den Priester und lassen den Mann ein, in dem die<br />
Nonne ihren Verfolger erkennt. Der Mann beruhigt die beiden alten Frauen und gibt<br />
ihnen zu verstehen, daß er weiß, daß sich auch noch der Priester in der Wohnung<br />
befindet. Diesen bittet er, gemeinsam mit ihm eine Totenmesse für jemanden zu<br />
halten, dem keine Messe mehr gewährt wurde, wie er sagt. Der Priester kommt dem<br />
Wunsch nach und der Mann ist sichtlich ergriffen von der Messe, von der allen vier<br />
Beteiligten unausgesprochen klar ist, daß sie dem wenige Tage zuvor geköpften König<br />
gilt, für den nun alle vier beten. Zum Dank gibt der Mann, bevor er den Priester und<br />
die Ordensschwestern verläßt, eine Schachtel mit einem Taschentuch, an dem Blutund<br />
Schweißspuren zu sehen sind. Sie verabreden noch, bevor sie sich trennen, daß<br />
sie sich am 21. Januar 1794, also am Jahrestag der Hinrichtung des Königs, wieder zu<br />
einer Totenmesse treffen werden. Die drei Bewohner des ärmlichen Verstecks wissen<br />
nicht, wer der Mann ist, doch bemerken sie in den Wochen und Monaten nach<br />
seinem Besuch, daß jemand heimlich für ihr Wohlergehen sorgt und ihnen<br />
Lebensmittel und Kleidung zukommen läßt. Zum verabredeten Treffen am Jahrestag<br />
erscheint der Mann noch einmal, verschwindet aber nach der Feier sofort wortlos.<br />
Im Jahr 1806 wird der Priester, der mittlerweile der Privatgeistliche einiger<br />
reicher Familien geworden ist, aus einer Gesellschaft ans Sterbebett eines Mannes<br />
gerufen, dessen Namen man ihm nicht sagen will. Als er bei dem Mann eintritt,<br />
erkennt er seinen Besucher von 1793. Der Sterbende will aber nicht die Sakramente<br />
empfangen, sondern drückt dem Geistlichen ein versiegeltes Paket mit Papieren in<br />
die Hand und sagt dazu:<br />
Ces papiers […] contiennent des observations et des documents qui ne doivent être<br />
appréciés que par une personne d’honneur et de probité, et qui n’appartienne pas à ma<br />
famille. […] en vous les confiant, je crois les remettre à la seule personne que je connaisse<br />
en état d’apprécier ces écrits à leur juste valeur. J’aurais pu le brûler; mais quel est<br />
l’homme, si bas que l’ait placé le sort, qui ne prétende à l’estime de ses semblables? Je<br />
vous en constitue donc le seul maître. 82<br />
82 Balzac: Nouvelles et contes. Bd. 1, S. 128.<br />
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