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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

Das, was bei Mme de Staël mit der Idee der Perfektibilität noch grundsätzlich<br />

optimistisch gedacht war, wurde in Chateaubriands romantischem Manifest nun<br />

umgekehrt zu einer Vervollkommnung der Fähigkeit, an der modernen, entzauberten<br />

Welt zu leiden. Die Gegensätze zwischen der Gefühlswelt des modernen Menschen<br />

und der ihn umgebenden Wüste sind in dieser Passage einprägsam schematisiert:<br />

1) „désirs“, aber keine „illusions“ mehr (man kann hier bereits an den Titel von<br />

Balzacs „Illusions perdues“ denken)<br />

2) imagination riche, abondante, merveilleuse / existence pauvre, sèche,<br />

désenchanté<br />

3) cœur plein / monde vide<br />

Die Literatur der Träume und der unendlichen Suche, die Chateaubriand dem<br />

Bewußtsein des Verlusts entgegenhält, ist der einzige Ort, an dem die<br />

Rückverzauberung der Welt zumindest für den Augenblick der Lektüre noch einmal<br />

möglich wird. Ein Name, den schon die Zeitgenossen Chateaubriand gegeben haben,<br />

ist deshalb auch der „enchanteur“, der „Verzauberer“.<br />

Atala und René<br />

In der Ausgabe des Génie du christianisme von 1802 folgte auf das Kapitel über den<br />

„vague des passions“ die Geschichte von René, die erst 1805, zusammen mit Atala, in<br />

einer eigenständigen Fassung erschienen ist. Sowohl Atala als auch René sind<br />

ursprünglich Teile von Chateaubriands großem Amerikamanuskript, an dem er seit<br />

seiner Amerikareise von Anfang der 1790er Jahre gearbeitet und das er vielfach<br />

recycelt hat. Wir werden uns im Folgenden auf René konzentrieren, den<br />

unumstrittenen Gründungstext der französischen <strong>Romantik</strong>. Die 1804 geborene<br />

George Sand hat in ihrer Autobiographie noch Jahrzehnte später den<br />

überwältigenden Eindruck festgehalten, den die erste Lektüre des René auf sie<br />

gemacht habe:<br />

Il me sembla que René c’était moi. […] je me sentis écrasée par ce dégoût de la vie qui me<br />

paraissait puiser bien assez de motifs dans le néant de toutes les choses humaines. […] Je<br />

pris, par l’imagination, tous les maux de l’âme décrits dans ce poème désolé. 38<br />

Die Formulierung, sie habe sich „tous les maux de l’âme“ zugezogen, die in<br />

Chateaubriands <strong>Text</strong> beschrieben werden, bestätigt indirekt die Selbsteinschätzung<br />

38 George Sand: Histoire de ma vie (Pléiade, Bd. 1, S. 1092).<br />

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