Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das Problem für jede Form von Selbstbeschreibung nach Rousseau ist das der<br />
unbedingten Aufrichtigkeit. Auch Stendhal schlägt sich permanent mit diesem<br />
Problem herum, sieht die Aufrichtigkeit aber vor allem als die einzige Möglichkeit,<br />
das Interesse des Lesers zu gewinnen, den er durch das ständige Reden in der ersten<br />
Person Singular zu langweilen befürchtet. Zu Beginn der Souvenirs d’égotisme heißt<br />
es deshalb:<br />
Quel homme suis-je? Ai-je du bon sens, ai-je du bon sens avec profondeur? Ai-je un esprit<br />
remarquable? En vérité, je n’en sais rien. Ému par ce qui m’arrive au jour le jour, je pense<br />
rarement à ces questions fondamentales, et alors mes jugements varient comme mon<br />
humeur. Mes jugements ne sont que des aperçus. […] Le génie poétique est mort, mais le<br />
génie du soupçon est venu au monde. Je suis profondément convaincu que le seul<br />
antidote qui puisse faire oublier au lecteur les éternel Je que l’auteur va écrire, c’est une<br />
parfaite sincérité. 79<br />
Mit einer ähnlichen Formulierung gibt Stendhal zu Beginn der Vie de Henry Brulard<br />
außerdem zu verstehen, daß bereits 1835 die vollkommene romantische<br />
Autobiographie Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe waren, die zu diesem<br />
Zeitpunkt zwar noch nicht erschienen waren, von denen aber bereits Auszüge<br />
vorlagen und über die Chateaubriand vor allem ständig sprach. Stendhal findet die<br />
Vorstellung, einfach und ungebrochen „Ich“ zu sagen, jedoch sehr belastend:<br />
[…] cette effroyable quantité de Je et de Moi! Il y a de quoi donner de l’humeur au lecteur<br />
le plus bénévole. Je et Moi, ce serait, au talent près, comme M. de Chateaubriand, ce roi<br />
des égotistes. 80<br />
Sie wissen vermutlich, daß Stendhal weder Stendhal noch Henry Brulard hieß,<br />
sondern als Henry Beyle geboren wurde, und daß er noch viele weitere Namen<br />
erfunden hat, um nicht Ich sagen zu müssen.<br />
Wie er dann doch über sich selbst spricht, werden wir uns im neuen Jahr noch<br />
ansehen und dann auch zu Racine et Shakespeare und dem romantischen Theater<br />
kommen, das uns heute nur aus der Provinzsicht der Herren Dupuis und Cotonet<br />
begegnet ist.<br />
79 Stendhal: Souvenirs. In: Œuvres intimes. Pléiade-Del Litto, Bd. 2, S. 430.<br />
80 Stendhal: Vie de Henry Brulard. In: Ebd., S. 533.<br />
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