Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
großen Erfolg der Méditations konnte er eine finanziell attraktive Ehe schließen und<br />
eine diplomatische politische Karriere beginnen. 1830 wurde er in die Académie<br />
française gewählt, den Höhe- und Endpunkt seiner politischen Karriere erreichte er,<br />
als er nach der Februarrevolution von 1848 zum Präsidenten der zweiten<br />
französischen Repuiblik gewählt wurde.<br />
Der Herausgeber einer der letzten Ausgaben des poetischen Gesamtwerk von<br />
Lamartine konnte schon 1963 schreiben, daß alle glaubten, Lamartine zu kennen, daß<br />
ihn nur wenige lesen und daß ihn niemand mehr schätzt. Auch wir wollen nicht<br />
versuchen, Lamartine zu retten, aber wir müssen verstehen, was das Publikum von<br />
1820 so neuartig und begeisternd an ihm fand. Einen Hinweis gibt uns gleich das<br />
zweite Gedicht aus den Méditations, „L’Homme“, das Lord Byron gewidmet ist und<br />
sich auch direkt an den Engländer wendet. Der Anfang lautet:<br />
Toi, dont le monde encore ignore le vrai nom,<br />
Esprit mystérieux, mortel, ange, ou démon,<br />
Qui que tu sois, Byron, bon ou fatal génie,<br />
J’aime de tes concerts la sauvage harmonie,<br />
Comme j’aime le bruit de la foudre et des vents<br />
Se mêlant dans l’orage à la voix des torrents!<br />
La nuit est ton séjour, l’horreur est ton domaine:<br />
L’aigle, roi des déserts, dédaigne ainsi la plaine;<br />
Il ne veut, comme toi, que des rocs escarpés<br />
Que l’hiver a blanchis, que la foudre a frappés;<br />
Des rivages couverts des débris du naufrage,<br />
Ou des champs tout noircis des restes du carnage […]<br />
Das Gedicht ist in seiner Bilderflut typisch für den Lamartine-Effekt, der hier noch<br />
dadurch gesteigert wird, daß es keinen wirklichen Gegenstand hat, der beschrieben<br />
werden müßte, sondern assoziierend Bilder aneinanderreiht, die Lord Byron mit<br />
verschiedenen Naturphänomenen in Verbindung bringen. Byron veranstaltete<br />
Konzerte, die sich durch eine „sauvage harmonie“ auszeichnen, und die in diesem<br />
Begriffspaar enthaltene Spannung läßt sich auch als ein wichtiger Grund für<br />
Lamartines Erfolg von 1820 identifizieren. Lamartine bietet ein Konzentrat von<br />
romantischen Naturklischees, die so etwas wir Wildnis und Einsamkeit evozieren,<br />
bindet diese Wildnis aber in die strenge Harmonie der klassischen Form, die nur<br />
selten aufgebrochen wird. Wenn wir das Versmaß ansehen, haben wir einen<br />
klassischen 12hebigen Alexandriner, der in einfachen Paarreimen verbunden wird.<br />
Der inhaltlichen Wildheit von „bruit“, „foudre“, „orage, „torrent“, „horreur“ usw.<br />
steht also eine formale Ruhe und Klassizität gegenüber, die den möglichen Schock<br />
des Inhalts dämpft und zurücknimmt. Ein Blick auf einige der bekanntesten Titel der<br />
Sammlung läßt bereits erahnen, wie dieses Schema weitergeführt wird. Die <strong>Text</strong>e<br />
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