Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Meditierende die Kirche als Institution kaum noch zu benötigen scheint, jedenfalls<br />
wird bereits in den Méditations, von 1820 die Natur zum sakralen Raum. Die<br />
Anfänge zweier <strong>Text</strong>e aus den Méditations können das verdeutlichen. Das erste ist<br />
„La Prière“<br />
Le roi brillant du jour, se couchant dans sa gloire,<br />
Descend avec lenteur de son char de victoire.<br />
Le nuage éclatant qui le cache à nos yeux<br />
Conserve en sillons d’or sa trace dans les cieux,<br />
Et d’un reflet de pourpre inonde l’étendue.<br />
Comme une lampe d’or, dans l’azur suspendue,<br />
La lune se balance aux bords de l’horizon;<br />
Ses rayons affaiblis dorment sur le gazon,<br />
Et le voile des nuits sur les monts se déplie:<br />
C’est l’heure où la nature, un moment recueillie,<br />
Entre la nuit qui tombe et le jour qui s’enfuit,<br />
S’élève au Créateur du jour et de la nuit,<br />
Et semble offrir à Dieu, dans son brillant langage,<br />
De la création le magnifique hommage.<br />
Voilà le sacrifice immense, universel!<br />
L’univers est le temple, et la terre est l’autel.<br />
„La Prière“ beginnt also mit der Abendstimmung, in der die untergehende Sonne (le<br />
roi brillant du jour) nur noch in den letzten goldfarbenen Streifen (sillons d’or) am<br />
Horizont zu sehen ist. Der aufgehende Mond, der wie eine goldene Lampe am<br />
Horizont schwebt, bescheint schwach die Wiese und der Schleier der Nacht verhängt<br />
die Berge. In dieser Stunde ist es zunächst die Natur selbst, die ein Gebet an Gott<br />
richtet (semble offrir à Dieu, dans son brillant langage / De la création le magnifique<br />
hommage). Das ganze Universum ist eine Kirche, die Erde ist ihr Altar. Der Gläubige<br />
kann also überall in der Natur sein Gebet sprechen und sich dabei immer wie im<br />
sakralen Raum der Kirche fühlen. Wir hatten bereits letzte Woche gehört, daß<br />
Lamartines Interpretation des Christentums nicht die ungeteilte Zustimmung der<br />
katholischen Orthodoxie fand, und tatsächlich sind solche Naturschwärmereien auch<br />
ohne weiteres mit aufklärerischem Deismus vereinbar. Zu Lamartines großem Erfolg<br />
hat sicher auch diese Offenheit gegenüber aufklärerischen Traditionen beigetragen.<br />
Für ein alltäglich-populäres Verständnis des Christentums waren Lamartines <strong>Text</strong>e<br />
außerdem nicht so anstößig, wie für die katholische Kirche als Institution, so daß sich<br />
beide Lager davon angesprochen fühlen konnten, das christlich-populäre und das<br />
aufklärerische. Im weiteren <strong>Text</strong>verlauf kommt dann auch die „raison“ (wenn auch<br />
als „humble raison“) ausdrücklich zu ihrem Recht, als nun nicht mehr nur die Natur,<br />
sondern auch der einsame Gläubige sein Gebet spricht:<br />
Seul, invoquant ici son regard paternel,<br />
Je remplis le désert du nom de l’Éternel;<br />
Et celui qui du sein de sa gloire infinie,<br />
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