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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

der Gast nicht nur allgemein schweigsam und traurig wirkt, sondern daß er alle<br />

Anzeichen des Melancholikers an sich trägt:<br />

[…] il ne voyageait point par curiosité, car il ne visitait ni les ruines, ni les sites, ni les<br />

monuments, ni les hommes. Il lisait beaucoup, mais jamais d’une manière suivie; il se<br />

promenait le soir, et souvent il passait les journées entières assis, immobile, la tête<br />

appuyée sur les deux mains. 66<br />

Als der Rahmenerzähler weiterreisen könnte, weil die Verkehrswege wieder frei sind,<br />

wird der namenlose Melancholiker schwer krank, und der Herausgeber fühlt sich<br />

verpflichtet, ihm Beistand zu leisten. Es wird deutlich, daß der Kranke nicht<br />

besonders am Leben hängt und fast enttäuscht ist, als der Arzt des kleinen Ortes<br />

seine Gesundheit wiederherstellt. Der Genesene bedankt sich und reist weiter, der<br />

Erzähler ebenfalls. Mehrere Monate später empfängt er, während er sich in Neapel<br />

aufhält, einen Brief und eine Kassette mit Papieren, die der kalabresische Gastwirt an<br />

einer Straße in der Nähe des kleinen Ortes gefunden hat, und von der er annimmt,<br />

daß sie entweder dem Erzähler oder dem melancholischen Gast gehört. Die Kassette<br />

enthält: „beaucoup de lettres fort anciennes sans adresses, ou dont les adresses et les<br />

signatures étaient effacées, un portrait de femme et un cahier contenant l’anecdote ou<br />

l’histoire qu’on va lire“. 67 Der Rahmenerzähler, der keine Adresse des Fremden hat,<br />

behält die Kassette noch zehn Jahre bei sich, bis er bei einer Reise in Deutschland<br />

zufällig einem Mann begegnet, der den melancholischen Besitzer der Kassette<br />

gekannt und die in der Anekdote zusammengefaßte Liebesgeschichte aus der Nähe<br />

verfolgt hatte. Dieser Mann bittet den Herausgeber, das Manuskript lesen zu dürfen,<br />

und als er es eine Woche später wieder zurückschickt, ermutigt er ‚Constant‘ in einem<br />

Begleitbrief, die Anekdote zu veröffentlichen. Diesen Brief sowie eine Antwort des<br />

Herausgebers darauf finden wir am Ende der Anekdote abgedruckt.<br />

Die zeitliche Abfolge sieht also in etwa so aus: der Herausgeber bietet uns einen<br />

<strong>Text</strong>, den er zehn Jahre früher erhalten hat und den der melancholische Fremde<br />

seinerseits noch einmal wesentlich früher verfaßt haben muß, wie die vergilbten<br />

Papiere zu erkennen geben. Der Zeitpunkt der Niederschrift der Anekdote muß<br />

wiederum einige Zeit nach den beschriebenen Ereignissen liegen, da der Ich-Erzähler<br />

der Anekdote, also Adolphe, wiederholt zu verstehen gibt, daß er sich in einigem<br />

zeitlichen Abstand dazu befindet. Einigermaßen genau datiert ist allein die<br />

Zeitspanne der Handlung der Anekdote: Das erste Kapitel beginnt, als Adolphe 22<br />

66 Ebd., S. 45.<br />

67 Ebd.<br />

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