Vorlesung Romantik Text
Vorlesung Romantik Text
Vorlesung Romantik Text
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Jahre alt ist, und wir verfolgen in den insgesamt 10 Kapiteln der Anekdote die<br />
Geschehnisse zwischen Adolphe und Ellénore über drei Jahre. Im Vorwort zur<br />
zweiten Auflage hatte Constant bereits mehrere Lektüreschlüssel angeboten, die um<br />
die zentralen Begriffe „Sprache“ und „Natur“ kreisten. Ein Anliegen des <strong>Text</strong>s sei es,<br />
zu zeigen, daß aus einer Liebeserklärung, die anfangs nur ein Sprachspiel sein kann,<br />
unabsehbare und fatale Folgen entstehen können:<br />
[…] il y a dans la simple habitude d’emprunter le langage de l’amour, et de se donner ou<br />
de faire naître en d’autres des émotions de cœur passagères, un danger qui n’a pas été<br />
suffisamment apprécié jusqu’ici. 68<br />
Diese zynische Haltung der Liebe gegenüber sieht Constant als eine Tradition der<br />
alles relativierenden Aufklärung und insbesondere der libertinen Literatur des<br />
18. Jahrhunderts, die aber ihre Rechnung ohne die Wirkung der Natur gemacht habe.<br />
Die Männer glaubten, eine leichtfertig eingegangene Liebesbeziehung lasse sich<br />
ebenso leichtfertig wieder beenden, müßten dann aber feststellen, daß sie dazu erst<br />
die letzten Reste der Natur in sich abtöten müssen:<br />
Ils pensent pouvoir rompre avec facilité le lien qu’ils contractent avec insouciance. Dans<br />
le lointain, l’image de la douleur paraît vague et confuse, telle qu’un nuage qu’ils<br />
traverseront sans peine. […] Mais lorsque les larmes coulent, la nature revient en eux<br />
[…]. 69<br />
Um den natürlichen Reflex zu unterbinden, den der Anblick der Tränen einer<br />
verletzten Geliebten auslöst, müssen sie in ihrem Herzen alles vernichten, was<br />
großzügig, treu und gut ist. Wenn sie das vollbracht haben, leben sie zwar weiter,<br />
aber in einer sentimentalen Wüste: „Ils survivent ainsi à leur meilleure nature,<br />
pervertis par leur victoire, ou honteux de cette victoire, si elle ne les a pas<br />
pervertis.“ 70 Das ist, wie wir später erfahren werden, der eingangs geschilderte<br />
Zustand, in dem Adolphe dem Herausgeber in Süditalien begegnet war.<br />
Wir sehen Adolphe zuerst als 22-jährigen, der soeben seine Ausbildung an der<br />
Universität Göttingen abgeschlossen hat. In rückblickenden Passagen erfahren wir,<br />
daß er kein glückliches Verhältnis zu seinem Vater hat und daß er sich schon als<br />
17jähriger im Umgang mit einer wesentlich älteren Frau daran gewöhnt hatte, alles<br />
unter dem Aspekt des Todes zu betrachten:<br />
[…] nous avions envisagé la vie sous toutes ses faces, et la mort toujours pour terme de<br />
tout ; et après avoir tant causé de la mort avec elle, j’avais vu la mort la frapper à mes<br />
68 Ebd., S. 35.<br />
69 Ebd., S. 37.<br />
70 Ebd., S. 38.<br />
55