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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

beschreiben, ähnelt bis in einzelne Formulierungen Balzacs Programm, die<br />

gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen des Menschen mit zoologisch geschultem<br />

Blick zu analysieren. Aber trotz dieser auffälligen Ähnlichkeiten in der Beschreibung<br />

der eigenen Leistungen sind doch die politischen Intentionen, die hinter Michelets<br />

Histoire de France und hinter Balzacs Comédie humaine liegen, diametral<br />

entgegengesetzt. Während Michelet von der demokratischen Idee begeistert ist und<br />

die Französische Revolution als den Gipfel der französischen Geschichte betrachtet,<br />

von dem aus der Fortschritt der Menschheit des 19. Jahrhunderts beginnt, ist für den<br />

Royalisten Balzac die Revolution von 1789 die Wurzel allen Übels. Die Revolution<br />

von 1830, die Michelet noch im Rückblick so begeistert beschreibt („l’éclair de juillet.<br />

Dans ces jours mémorables, une grande lumière se fit“), hat für Balzac die negativen<br />

Tendenzen, die 1789 angelegt worden waren, nur noch verstärkt. Eben deshalb<br />

erfordert aber auch die neue Gesellschaft in ihrer größeren Mobilität und<br />

Durchlässigkeit eine neue Methode der literarischen Beschreibung. Balzacs kritischer<br />

Blick auf die neue Gesellschaft, die er ablehnt, die ihn aber dennoch fasziniert, macht<br />

sein Projekt so wichtig. Er hat, wie Erich Köhler sagt, gleichzeitig „erkannt und<br />

theoretisch formuliert, daß mit der großen Revolution – also der von 1789 – und dem<br />

Zerfall der hierarchischen Gesellschaftsform das Individuum aus seinen<br />

jahrhundertealten Bindungen entlassen wurde, und er hat auch erkannt und in<br />

seinem Werk die Konsequenz gezogen, daß an die Stelle der alten Determination eine<br />

neue getreten ist, die der Industriegesellschaft, daß aber die Standesgrenzen gefallen<br />

sind und im Prinzip dem Individuum jeder Weg offen steht.“ 105<br />

Wir hatten letzte Woche schon Balzacs Plan von 1845 gesehen, in dem er die<br />

gesamte Comédie auf 137 Einzelwerke veranschlagte. Bis zu seinem Tod im August<br />

1850, also mit nur 51 Jahren, waren davon 91 abgeschlossen, in denen mehr als 2400<br />

Personen vorkommen. Balzac hat seine Gesundheit systematisch durch die<br />

Schreibarbeit ruiniert und dazu noch in seinen letzten Lebensjahren strapaziöse<br />

Reisen im Winter in die Ukraine, die Heimat von Eva Hanska, unternommen. Ende<br />

April 185o reisen die beide von dort wieder nach Paris, wo sie nach einer<br />

einmonatigen Reise Ende Mai eintreffen. Balzac stirbt dort am 18. August, am 21.<br />

wird er auf dem Père-Lachaise beerdigt. Die Grabrede hielt Victor Hugo, der sich<br />

bereits sicher war, daß Balzacs Werk zu den bleibenden Höhepunkten des<br />

19. Jahrhunderts gehören würde. In einer knappen Skizze würdigt er die neuartige<br />

105 Erich Köhler: <strong>Vorlesung</strong>en zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert II.<br />

Stuttgart: Kohlhammer 1987, S. 37.<br />

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