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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

Zynismus als Naivität oder als Betrug erschienen war. Wenn wir also als letzten Satz<br />

des Romans die Beschreibung von Octaves Aufbruch aus Paris lesen, nachdem der<br />

neubekehrte Katholik gerade Verzicht geleistet und seine Geliebte an Henry Smith<br />

abgetreten hat, dann können wir ihm zumindest aufgrund dessen, was wir im Verlauf<br />

des Romans über seine Wankelmütigkeit erfahren haben, keine besonders gute<br />

Prognose stellen. Daß der christliche Glaube seine Zweifel und seine Melancholie<br />

länger und gründlicher beruhigen wird als Libertinage und <strong>Romantik</strong>, ist jedenfalls<br />

nicht sehr wahrscheinlich.<br />

Im September 1836 erschien dann in der Revue des deux mondes der erste von<br />

insgesamt vier Briefen von zwei bildungsbeflissenen Bürgern aus dem Provinznest La<br />

Ferté-sous-Jouarre. Die beiden Herren namens Dupuis und Cotonet denken bereits<br />

seit zwölf Jahren über die Frage nach, was die <strong>Romantik</strong> eigentlich sei. Dazu bieten<br />

sie eine sehr geschwätzige Chronik der französischen <strong>Romantik</strong> von 1824 bis 1836.<br />

Die Verunsicherung der beiden beginnt 1824: „nous n’avons jamais pu comprendre,<br />

ni mon ami Cotonet ni moi, ce que c’était que le romantisme“. Zunächst sind sie der<br />

Meinung, daß sich die <strong>Romantik</strong> nur auf das Theater beziehe, das sich nicht mehr an<br />

die klassischen Regeln der Einheit von Raum, Zeit und Handlung halte und für das<br />

insbesondere Shakespeare stehe. Doch dann, gegen 1828, müssen sie zu ihrem<br />

Entsetzen erfahren, daß auch andere Gattungen in romantischer Form auftreten<br />

können. Das verwirrt sie enorm, weil sie nun nicht mehr wissen, welcher Richtung sie<br />

einen <strong>Text</strong> zuordnen sollen:<br />

Mais on nous apprend tout à coup (c’était, je crois, en 1828) qu’il y avait poésie<br />

romantique et poésie classique, roman romantique et roman classique, ode romantique et<br />

ode classique; que di-je, mon cher monsieur, un seul et unique vers pouvait être<br />

romantique ou cassique, selon que l’envie lui en prenait. Quand nous reçûmes cette<br />

nouvelle, nous ne pûmes fermer l’œil de la nuit. Deux ans de paisible conviction venaient<br />

de s’évanouir comme un songe. Toutes nos idées étaient bouleversées […]. Par quel<br />

moyen, en lisant un ouvrage, savoir à quelle école il appartenait ?<br />

Die beiden können sich zwar noch auf die klare Definition stützen, die das Wort<br />

„romantisch“ in der Provinz hat („[…] il faut vous dire, monsieur, qu’en province, le<br />

mot romantique a, en général, une signification facile à retenir, il est synonyme<br />

d’absurde et on ne s’en inquiète pas autrement“), doch das beruhigt sie nicht. Sie<br />

gehen alles durch, Madame de Staël und die deutsche und englische Literatur im<br />

Gegensatz zur Nachahmung der Antike, aber nichts überzeugt sie, alles verwirrt sie:<br />

De 1830 à 1831, nous crûmes que le romantisme était le genre historique, ou, si vous<br />

voulez, cette manie, qui depuis peu, a pris nos auteurs d’appeler des personnages de<br />

romans et de mélodrames Charlemagne, François Ier ou Henri IV, au lieu d’Amadis,<br />

d’Oronte ou de Saint-Albin. […]<br />

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