Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Der Verkaufserfolg seines unspielbaren historischen Dramas bringt Hugo dazu, es<br />
mit einem tatsächlich für die Aufführung geschriebenen Stück zu probieren. 1828<br />
läßt er im Théâtre de l’Odéon, das dem Anspruch nach so etwas wie die kleinere<br />
Schwester der Comédie Française war, seine Walter Scott-Adaption Amy Robsart<br />
aufführen. Den Stoff hatte Hugo Walter Scotts Roman Kenilworth von 1821<br />
entnommen. Der Roman spielt im 16. Jahrhundert im Umfeld des Hofs von Königin<br />
Elisabeth I und erzählt die melodramatische Geschichte von Elisabeths Günstling<br />
Graf Leicester, den Sie auch aus Schillers Maria Stuart kennen, der heimlich Amy<br />
Robsart heiratet. Nach einer Reihe von Hofintrigen wird Amy ermordet und Leicester<br />
flieht nach Amerika. Hugo verzichtet darauf, Shakespeare in Person auf die Bühne zu<br />
bringen, was Scotts Vorlage hergegeben hätte (Shakespeare tritt in Kenilworth bei<br />
einem Hoffest ebenso auf wie sein zeitgenössischer Dichterkollege Edmund Spenser),<br />
aber Hugo bringt zumindest einen intertextuellen Verweis an, indem er als das<br />
groteske Element im Stück einen teuflischen Zwerg namens Flibbertigibbet in den<br />
Vordergrund rückt, der aus Shakespeares King Lear stammt.<br />
Auch Hugos folgende Dramen spielen in historisch weit zurückliegenden<br />
Epochen. Marion Delorme, über die wir letzte Woche kurz gesprochen hatten, spielt<br />
zur Zeit Ludwigs XIII., der Böse ist auch hier wieder Kardinal Richelieu. Der erste<br />
Versuch mit diesem Stück war, wie bereits gesagt, 1829 an der Zensur gescheitert,<br />
nachdem die Comédie-Française den <strong>Text</strong> bereits akzeptiert hatte. 1831, nun unter<br />
der Julimonarchie, unternimmt er einen zweiten Versuch, diesmal am Theater der<br />
Porte Saint-Martin. Das Stück kommt gut an, und Hugo macht sich an die Arbeit zu<br />
Le Roi s’amuse, der im Novemer 1832 wieder an der Comédie-Française Premiere<br />
hat. Hugo ist noch ein Jahrhundert weiter zurückgegangen, die Geschichte spielt nun<br />
am Hof von François I in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Erwartungen<br />
des Publikums sind hoch, die gesamte intellektuelle Elite der <strong>Romantik</strong> ist zur<br />
Premiere versammelt: Nerval, Musset, Sainte-Beuve, George Sand, Balzac, Gautier,<br />
Stendhal, die Maler Ingres und Delacroix, Franz Liszt und viele andere Größen der<br />
Zeit. Doch die zutiefst finstere Geschichte verstört das Publikum ungemein. Sie<br />
kennen die Handlung vielleicht aus Giuseppe Verdis Oper Rigoletto von 1851, die sich<br />
direkt auf Le Roi s’amuse stützt:<br />
Triboulet, der grotesk-häßliche Hofnarr des Königs hat eine schöne,<br />
sechzehnjährige Tochter mit dem sprechenden Namen Blanche, die er vor der Welt<br />
versteckt hält. Bei Hof nimmt er sich alle Freiheiten heraus, die ihm sein<br />
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