Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Das romantische Projekt einer totalen Beschreibung der Gesellschaft wird hier<br />
bereits deutlich sichtbar. 1833 war ihm auch die Idee gekommen, die einzelnen<br />
Romane des entstehenden Großpanoramas dadurch zu verknüpfen, daß er das<br />
Personal in verschiedenen <strong>Text</strong>en auftreten lassen würde. Seiner Schwester hat er<br />
damals angeblich gesagt: „Saluez-moi, car je suis tout bonnement en train de devenir<br />
un génie“. Das Verknüpfungsprinzip bot ihm die Möglichkeit, ganze<br />
Lebensgeschichten einzelner Personen über mehrere Romane verteilt zu erzählen, es<br />
führte aber auch dazu, daß der Realitätseffekt seiner <strong>Text</strong>e erhöht wurde und die<br />
Romane eine eigene Welt zu bilden scheinen, aus denen die einzelnen <strong>Text</strong>e immer<br />
neue Ausschnitte bieten, die sich aber mit anderen Ereignissen oder Biographien<br />
innerhalb dieser Welt überschneiden können. Im „Avant-propos“ der Ausgabe von<br />
1842, die erstmals mit dem Namen Comédie humaine auftrat, hat er diese Qualität<br />
ausdrücklich betont:<br />
Mon ouvrage a sa géographie comme il a sa généalogie et ses familles, ses lieux et ses<br />
choses, ses personnes et ses faits; comma il a son armorial, ses nobles et ses bourgeois,<br />
ses artisans et ses paysans, ses politiques et ses dandies, son armée, tout son monde<br />
enfin!<br />
Marcel Proust hat über die Comédie gesagt, sie verdanke sich einer „illumination<br />
rétrospective“, also einer rückblickenden Erleuchtung, die Balzac erst um 1840<br />
gekommen sei. Was den Titel angeht, ist das sicher richtig, aber daß die Konstruktion<br />
spätestens ab 1833 auf eine Gesamtdarstellung der Gesellschaft der Gegenwart<br />
abzielte, haben wir vorhin gesehen. Balzacs Idee liegt eine Vorstellung der<br />
Gesellschaft zugrunde, die sich bei der Zoologie inspiriert. So wie französische<br />
Biologen wie Buffon im 18. und Geoffroy de Saint-Hilaire im frühen 19. Jahrhundert<br />
die Tier- und Pflanzenwelt kategorisiert und in Familien eingeteilt hatten, so wollte<br />
auch Balzac den Menschen in allen seinen gesellschaftlich zu beobachtenden<br />
Konkretisierungen analysieren. Im „Avant-propos“ nennt er diese Biologen auch als<br />
wichtige Bezugsgrößen. Er faßt Geoffroy Saint-Hilaires System so zusammen, daß es<br />
in der Natur nur ein animalisches Grundprinzip gebe, von dem sich alle Tiere<br />
ableiten lassen. Die Unterschiede, die sich zwischen den Tierarten beobachten lassen,<br />
seien nur die Folge der Umwelt, in der sich die verschiedenen Arten entwickelt<br />
haben:<br />
L’animal est un principe qui prend […] les différences de sa forme, dans les milieux où il<br />
est appelé à se développer. Les Espèces Zoologiques résultent de ces différences.“ 103<br />
103 Balzac: Avant-Propos (Comédie humaine, Pléiade-Ausgabe, Bd. 1, S. 8).<br />
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