Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
damit die Frage nur verschoben wird, da man nun statt des „bon goût“ den „goût<br />
naturel“ definieren müßte, ist offensichtlich.<br />
Mme de Staëls Urteil über Shakespeare ist auch ein guter Indikator für die<br />
Unterschiede zwischen ihrem Verständnis von <strong>Romantik</strong> und dem der Schlegels.<br />
Trotz der großen Nähe besonders zu August Wilhelm Schlegel, der immerhin der<br />
wichtigste deutsche Shakespeare-Übersetzer seiner Zeit war, übernimmt Mme de<br />
Staël dessen Begeisterung für den Engländer nicht ohne Einschränkungen. Und was<br />
das Beispiel aus King Lear und die Darstellung von Grausamkeiten angeht, hatte<br />
Friedrich Schlegel schon in den Athenäums-Fragmenten gerade solche<br />
schockierenden Momente, zumindest für den Roman, als logische Konsequenz aus<br />
dem analytischen Interesse der sentimentalen, psychologischen Literatur gefordert:<br />
Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder Romane liest, so ist es sehr<br />
inkonsequent, und klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung<br />
unnatürlicher Lüste, gräßlicher Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder<br />
geistiger Impotenz scheuen zu wollen. […] Auch die Darstellung absoluter Marter<br />
(Diderots Religieuse) gehört wesentlich zur modernen Poesie und zu den Prolegomena<br />
des Romans. 52<br />
Schlegel dachte dabei, neben Diderot, vermutlich vor allem an den Marquis de Sade,<br />
dem man die hier geforderte Konsequenz in der psychologischen Darstellung sicher<br />
nicht absprechen kann, und dessen Romane bewußt als die dunkle Seite der<br />
sentimentalen Literatur konzipiert sind. Für die Schlegels ist diese<br />
Weiterentwicklung der <strong>Romantik</strong> zur schwarzen <strong>Romantik</strong> also zumindest in der<br />
Logik der Sache angelegt, für Mme de Staël ist sie geradezu instinktiv unmöglich.<br />
Folgen von Mme de Staëls Deutschlandbuch<br />
Sehen wir uns noch an ein paar Beispielen die Folgen von De l’Allemagne für die<br />
Kenntnis der deutschen Literatur in Frankreich und für die weitere Entwicklung der<br />
französischen <strong>Romantik</strong> an. Angesichts der mangelnden Deutschkenntnisse, durch<br />
die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die meisten französischen<br />
Intellektuellen hervortaten, kann man ohne Übertreibung sagen, daß für die meisten<br />
von ihnen die von Mme de Staël gelieferten Informationen jahrzehntelang die Basis<br />
für ihr Deutschlandbild abgaben. Goethe hat im Rückblick von 1823, als das Buch der<br />
Weimarreisenden von 1803/1904 mittlerweile in ganz Europa bekannt war, die große<br />
Bedeutung von De l’Allemagne für die Kenntnis deutscher Literatur nicht nur in<br />
52 Friedrich Schlegel: Athenäumsfragment Nr. 124, KFSA Abt. 1, Bd. 2, S. 185.<br />
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