Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Auch in dieser Szene wird das Verhältnis zwischen Libertinage und <strong>Romantik</strong> so<br />
augenfällig zum Thema gemacht, daß wir in diesem Verhältnis einen der möglichen<br />
Schlüssel zum Verständnis des <strong>Text</strong>s vermuten dürfen. Octave stürzt sich begeistert<br />
in die Lektüre dieser frivolen Romane und stimmt der darin enthaltenen Botschaft<br />
uneingeschränkt zu:<br />
Dussé-je paraître puéril en ceci, l’arrivée de ces livres me frappa, dans la circonstance où<br />
je me trouvais. Je les dévorai avec une amertume et une tristesse sans bornes, le cœur<br />
brisé et le sourire aux lèvres. ‚Oui, vous avez raison, leur disais-je, vous seuls savez les<br />
secrets de la vie; vous seuls osez dire que rien n’est vrai que la débauche, l’hypocrisie et la<br />
corruption‘. (327)<br />
Der Gegensatz zur romantisch-sentimentalen Literatur, der hier bereits offensichtlich<br />
ist, wird auch unmittelbar im Anschluß an diese Stelle noch einmal ausgesprochen, so<br />
als könnte es Leser geben, die es nicht nicht begriffen hätten:<br />
Pendant que je m’enfonçais ainsi dans les ténèbres, mes poètes favoris et mes livres<br />
d’études restaient épars dans la poussière. Je les foulais aux pieds dans mes accès de<br />
colère: ‚Et vous, leur disais-je, rêveurs insensés qui n’apprenez qu’à souffrir, misérables<br />
arrangeurs de paroles, charlatans, si vous saviez la vérité, niais si vous étiez de bonne foi,<br />
menteurs dans les deux cas, qui faites des contes de fées avec le genre humain, je vous<br />
brûlerai tous jusqu’au dernier!<br />
In seiner Begeisterung für die libertine Literatur will er also seine sentimentalen<br />
Bücher, die er nun für verlogen oder für naiv hält, zunächst sogar verbrennen. Das tut<br />
er dann doch nicht, sondern schlägt in seiner Verwirrung nach dem Zufallsprinzip die<br />
Bibel auf. Aber selbst in der heiligen Schrift findet er keinen Trost, sondern nur<br />
weitere Ernüchterung. Zu seinem Unglück landet er im Alten Testament genau an<br />
einer der pessimistischsten Stellen des Buchs Kohelet:<br />
Wie es dem Guten geht, so geht’s auch dem Sünder. Wie es dem geht, der schwört, so<br />
geht’s auch dem, der den Eid scheut. Das ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne<br />
geschieht, daß es dem einen geht wie dem andern. Und dazu ist das Herz der Menschen<br />
voll Bosheit, und Torheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben; danach müssen sie<br />
sterben. (Kohelet 9,2–3)<br />
Daß nicht einmal in der Bibel Trost zu finden ist, versetzt ihm den vorläufig<br />
letzten Schlag. Es ist vor diesem Hintergrund fraglich, ob die katholische Lösung am<br />
Ende des Romans (Sie erinnern sich: Octave erblickt in dem Moment, in dem er seine<br />
schlafende Geliebte gerade erstechen will, das Kreuz, das sie um den Hals trägt und<br />
wird plötzlich fromm) – ob diese katholische Lösung also wirklich ernst zu nehmen<br />
ist, oder ob wir nicht darin einen weiteren Selbstbetrug sehen sollten. Da wir Octave<br />
vorher auch schon zwischen einer Phase des libertinen Zynismus und einer des<br />
romantischen Eifers immer wieder einmal im Gebet gesehen haben, wissen wir, daß<br />
auch seine christlichen Anwandlungen von begrenzter Dauer sein können. Letztlich<br />
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