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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

scheinen sowohl Libertinage als auch <strong>Romantik</strong> und Katholizismus jederzeit<br />

mögliche und bis zu einem gewissen Grad austauschbare Symptome der „maladie du<br />

siècle“ zu sein. So sehen wir beispielsweise die Libertins an manchen Abenden, an<br />

denen sie sich besonders ausschweifend geben möchten, gerührt bei der Lektüre<br />

eines romantischen Modellautors wie Lamartine zusammensitzen:<br />

Nous passions quelquefois ensemble des soirées délicieuses sous prétexte de faire les<br />

libertins. […] Que de fois l’un de nous […] tenait à la main un volume de Lamartine et<br />

lisait d’une voix émue! Il fallait voir alors comment toute autre pensée disparaissait! (339)<br />

Entscheidend ist offensichtlich, daß die unruhigen Gedanken stillgestellt werden, und<br />

das kann auch im Kreis der Libertins durch die Lektüre von Alphonse de Lamartine<br />

geschehen. Umgekehrt sind die katholischen Anwandlungen Octaves oft nur<br />

Vorstufen oder Ausdruck erotischer Phantasie, beispielsweise wenn ihm Brigitte als<br />

eine Art Madonna erscheint. Die Vergöttlichung der Geliebten ist natürlich im<br />

christlichen Sinn unzulässig und eine andere Form der Blasphemie, Octave hingegen<br />

wird dadurch offensichtlich erregt: „L’espace renfermé entre les quatre murs de votre<br />

jardin est le seul lieu au monde où je vive; vous êtes le seul être humain qui me fasse<br />

aimer Dieu.“ (354)<br />

In der abschließenden Krise, als er zwischen Selbstmord und Mord schwankt, sieht er<br />

sich kurz im Spiegel und erschrickt vor sich selbst. Die Persönlichkeitsspaltung ist an<br />

diesem Punkt so weit fortgeschritten, daß er sich vorkommt, als werde er von einem<br />

fremden Wesen bewohnt, das ihn zu grausamen Verhaltensweisen zwinge, die ihm<br />

selbst unerklärlich sind:<br />

Mon pauvre visage, que j’apercevais dans la glace, me regardait avec étonnement.<br />

Qu’était-ce donc que cette créature qui m’apparaissait sous mes traits? qu’était-ce donc<br />

que cet homme sans pitié qui blasphémait avec ma bouche et torturait avec mes mains?<br />

(392)<br />

Als ihn der Anblick des Kreuzes daran hindert, seine Geliebte zu erstechen und er<br />

überzeugt ist, zum Glauben zurückgefunden haben, schiebt er noch einmal die Schuld<br />

an seinem gottlosen Verhalten auf die libertinen Lektüren seiner Jugend.:<br />

Que ceux qui ne croient pas au Christ lisent cette page; je n’y croyais pas non plus. […]<br />

Empoisonné, dès l’adolescence, de tous les écrits du dernier siècle, j’y avais sucé de bonne<br />

heure le lait stérile de l’impiété. (395)<br />

Sein Beispiel soll also nun sogar Zweifelnde und Atheisten zum Glauben<br />

zurückführen. Wir hatten aber ja gesehen, daß er die „écrits du dernier siècle“ nicht<br />

nur in seiner Jugend, sondern noch vor wenigen Monaten gelesen hatt und daß der<br />

unmittelbare Effekt immer noch der war, daß ihm alles andere als ein schonungsloser<br />

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