Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Triboulet vereinbart hat, daß er ihm eine Leiche im Sack liefern wird, beschließen die<br />
beiden, daß sie den nächsten Passanten, der an der Tür ihrer Herberge vorbeikommt,<br />
ermorden und in den Sack stecken werden. Mittlerweile ist jedoch die als Mann<br />
verkleidete Blanche zurückgekehrt, die den König immer noch liebt und nun heimlich<br />
beobachten will, wie er die Nacht in der finsteren Absteige verbringen wird. Dabei<br />
belauscht sie den Plan der beiden Geschwister, den Schlafenden umzubringen,<br />
bekommt aber auch die Skrupel der anderen Frau mit. Sie beschließt nach langem,<br />
melodramatischem Zögern, sich für den Undankbaren zu opfern und klopft an der<br />
Tür, wohl wissend, daß dahinter der Mörder mit dem Messer auf sie wartet. Mit den<br />
christusgleichen Worten „O Dieu! pardonnez-leur! Pardonnez-moi, mon père!“ läßt<br />
sie sich abschlachten, und der vierte Akt endet.<br />
Triboulet empfängt dann triumphierend den Sack und führt einen Freudentanz à<br />
la Rumpelstilzchen auf, bei dem er den Sackinhalt tritt und schlägt und sich<br />
daraufstellt. Als er den Sack gerade mit den Worten „À l’eau, François premier!“ in<br />
die Seine werfen will, sieht das Publikum den König aus der Behausung der beiden<br />
Geschwister schleichen. Als er wieder sein Erkennungslied „Souvent femme varie“<br />
anstimmt, begreift Triboulet, daß die Leiche im Sack nicht die des Königs sein kann.<br />
Er öffnet den Sack und erkennt im Licht der Blitze – es regnet und gewittert natürlich<br />
genau in dieser mitternächtlichen Szene – seine Tochter. Mit seinem Klagegeschrei<br />
holt er sie noch einmal kurz ins Leben zurück, und sie richtet sich für eine bereits<br />
sehr opernwürdige, lange Sterbeszene noch einmal halb auf, während ihr<br />
Unterkörper im Sack stecken bleibt, um schließlich mit den Worten „Pardonnez-lui!<br />
mon père… Adieu!“ endgültig die Welt zu verlassen. Triboulet, der halb wahnsinnig<br />
geworden ist, ruft durch sein lautes Klagen die ganze Nachbarschaft zusammen, und<br />
über seinem Ausruf „J’ai tué mon enfant, j’ai tué mon enfant“ endet das Stück.<br />
Das Premierenpublikum hatte allerdings Schwierigkeiten, den Dialogen der<br />
beiden Schlußakte zu folgen, weil ein Teil der Zuschauer laut pfeifend und lachend<br />
die Aufführung störte. Hugos Frau hat die Reaktion des Publikums beschrieben, die<br />
Schreie des Vaters auf der Bühne übertönte:<br />
La marée montante des rires, des huées et des sifflets couvrait les sanglots paternels;<br />
l’orage de la scène n’était qu’un doux murmure près de l’orage de la salle.<br />
Hugo machte sich noch in der Nacht des 22. November 1832 daran, die anstößigsten<br />
Stellen abzumildern, die obszönen Flüche und die provozierende Gestalt des Königs<br />
François Ier. Doch es ist alles umsonst: Am nächsten Tag, dem 23.11., wird die<br />
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