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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

die weitere Wirkung einer Übersetzung aus Jean Pauls Siebenkäs, die Mme de Staël<br />

am Ende des Kapitels „Des romans“ von De l’Allemagne (II, 28) unterbringt, möchte<br />

ich noch kurz verfolgen, weil der <strong>Text</strong> in dieser Version von praktisch allen<br />

französischen <strong>Romantik</strong>ern, von Charles Nodier über Victor Hugo, Vigny, Balzac und<br />

Michelet bis zu Baudelaire und Nerval zur Kenntnis genommen worden ist. Unter der<br />

Überschrift „Un songe“ bot Mme de Staël eine sehr freie, lückenhafte und ungenaue<br />

Übersetzung des „Ersten Blumenstücks“ aus dem Siebenkäs. Es handelt sich dabei<br />

um die berühmte „Rede des toten Christus vom Kreuz herab, daß kein Gott sei“. 57<br />

Jean Paul hatte den <strong>Text</strong> 1796 als Anhang zum Siebenkäs geschrieben und darin<br />

einen Traum imaginiert, in dem der Erzähler nachts auf einem Friedhof erwacht und<br />

die Toten aus ihren Gräbern steigen sieht. Die Toten ziehen vom Friedhof in die<br />

angrenzende Kirche, wo ihnen der ebenfalls tote Christus erscheint, der ihnen<br />

weinend verkündet, daß es keinen Gott gebe:<br />

Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch<br />

die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine<br />

Schatten wirft, und schaute in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘ aber ich hörte<br />

nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus<br />

Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. 58<br />

In diesem Stil geht es noch eine Weile weiter, die Germanisten unter ihnen kennen<br />

den <strong>Text</strong> vermutlich. Die Leere der Natur ohne Gott wird noch weiter ausgemalt, und<br />

das Ganze soll eine Aufforderung zur Gottesfurcht sein, da ohne Gott alles leer sei.<br />

Am Ende wacht der Träumende auf und seine Seele „weinte vor Freude, daß sie<br />

wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn<br />

waren das Gebet“. Die Natur, die er danach wahrnimmt, ist wieder gotterfüllt und<br />

von ihr „flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken“. Es handelt sich<br />

bei dem <strong>Text</strong> also, wie Jean Paul auch ausdrücklich sagt, um die Horrophantasie<br />

einer Welt ohne Gott, mit der der Autor sich und seine Leser von eventuellen<br />

Anfechtungen des Atheismus kurieren möchte: „Wenn einmal mein Herz so<br />

unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes<br />

bejahen, zerstöret wären: so würd’ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern<br />

und – er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben“.<br />

Mme de Staël übersetzt zwar diese Bemerkung am Anfang ihres langen Zitats,<br />

bricht dann aber die Übersetzung mitten in der trostlosesten Situation ab, als<br />

Christus verkündet, daß er und die gesamte Menschheit vaterlos seien: „Nous<br />

57 JP: Sämtliche Werke, Abt I, Bd. 2, S. 270–275.<br />

58 Ebd., S. 273.<br />

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