Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Rêveries du promeneur solitaire<br />
Wie bereits gesagt, ist Rousseau 1778 auf dem Landsitz Ermenonville seines Freunds<br />
und Mäzens Girardin gestorben. Girardin hat sich direkt nach Rousseaus Tod dessen<br />
Manuskripte angeeignet und einiges davon publiziert – Rousseaus Witwe hat später<br />
gesagt, Girardin sei auf Zehenspitzen in das Totenzimmer geschlichen, während sie<br />
noch trauernd am Bett des Toten gestanden habe, und habe hinter ihrem Rücken die<br />
Manuskripte gestohlen. Die früher entstandenen Confessions und die kurz vor<br />
seinem Tod verfaßten Rêveries du promeneur solitaire sind 1782 zum ersten Mal<br />
erschienen und bilden seitdem so etwas wie ein Gründungsdenkmal der modernen<br />
Autobiographie, auch wenn Rousseau selbst den Begriff noch nicht kannte. Wir<br />
werden darauf im Zusammenhang mit der romantischen Autobiographie noch zu<br />
sprechen kommen.<br />
Gleich der erste Abschnitt der Rêveries zeigt uns ein von der Gesellschaft<br />
isoliertes und sich als ausgestoßen betrachtendes Ich, dem nur noch die<br />
Introspektion und die Selbstanalyse übrigbleiben:<br />
Me voici donc seul sur la terre, n’ayant plus de frère, de prochain, d’ami, de société que<br />
moi-même. Le plus sociable et le plus aimant des humains en a été proscrit par un accord<br />
unanime. Ils ont cherché dans les rafinemens de leur haine quel tourment pouvoit être le<br />
plus cruel à mon âme sensible, et ils ont brisé violemment tous les liens qui m’attachoient<br />
à eux. J’aurois aimé les hommes en dépit d’eux-mêmes. Ils n’ont pu qu’en cessant de l’être<br />
se dérober à mon affection. Les voilà donc étrangers, inconnus, nuls enfin pour moi puis<br />
qu’ils l’ont voulu. Mais moi, détaché d’eux et de tout, que suis-je moi-même ? Voilà ce qui<br />
me reste à chercher. 11<br />
Die als bewußte Verbannung wahrgenommene Isolation („proscrit par un accord<br />
unanime“) des schreibenden Individuums wird also zum Anlaß für die Erkundung<br />
des eigenen Ich. Die größte Strafe, die man der „âme sensible“ auferlegen konnte, war<br />
es, sie aus der Gesellschaft der Mitmenschen zu verstoßen, doch nun macht das<br />
sensible Wesen daraus eine Tugend und kümmert sich nur noch um sich selbst. Wir<br />
kümmern uns nun nicht um die Frage nach Rousseaus Verfolgungswahn, der hier<br />
sichtbar wird, sondern nur um die Selbststilisierung als Außenseiter, der aufgrund<br />
seiner erhöhten Sensibilität auf sich selbst zurückgeworfen ist.<br />
In diesem Zusammenhang ist auch die bereits letzte Woche zitierte Stelle aus dem<br />
fünften der insgesamt zehn Spaziergänge zu sehen, in dem das Wort „romantique“<br />
erstmals auftaucht. Die romantische Landschaft des Bieler Sees verdient dieses<br />
Attribut auch deshalb, weil es sich dabei um eine Landschaft handelt, in der das<br />
11 Rousseau: OC Bd. 1, ed. Gagnebin / Raymond 1959, S. 995.<br />
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