Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Liebesbrief in rein manipulativer Absicht und ohne eigene emotionale Beteiligung zu<br />
verfassen beginnt. Doch ist Adolphe eben kein konsequenter Zyniker, wie Valmont,<br />
sondern ein schwächlicher Melancholiker, der in seine eigene sprachliche Falle läuft:<br />
Les combats que j’avais livrés longtemps à mon propre caractère, l’impatience que<br />
j’éprouvais de n’avoir pu le surmonter, mon incertitude sur le succès de ma tentative,<br />
jetèrent dans ma lettre une agitation qui ressemblait fort à l’amour. Echauffé d’ailleurs<br />
que j’étais par mon propre style, je ressentais, en finissant d’écrire, un peu de la passion<br />
que j’avais cherché à exprimer avec toute la force possible.(65)<br />
Der Brief wirkt also gewissermaßen aufgrund eines doppelten sprachlichen<br />
Mißverständnisses : bei der Empfängerin, die aus dem sprachlichen Ausdruck der<br />
Gefühlswirrungen, die mit Liebe wenig zu tun haben, dennoch Liebe herausliest, und<br />
beim Verfasser, der sich in seinen eigenen Stil verliebt.<br />
Die Selbstbeschreibung, die er Ellénore von sich kurz danach mündlich liefert, ist<br />
einer der vielen deutlichen Anklänge an René und dessen einsames Herz. Adolphe<br />
sagt von sich selbst: „Vous connaissez ma situation, ce caractère qu’on dit bizarre et<br />
sauvage, ce cœur étranger à tous les intérêts du monde, solitaire au milieu des<br />
hommes, et qui souffre pourtant de l’isolement auquel il est condamné.“ Wir werden<br />
noch sehen, daß Constant diese Anklänge sehr planvoll einsetzt, daß er aber zu einer<br />
anderen Bewertung des einsamen Herzens gelangt als Chateaubriand. Zunächst<br />
weiter in der Romanhandlung: Adolphe steigert seine Liebesbekundungen in immer<br />
dramatischeren Tönen und versucht Ellénore einzureden, die Natur habe sie für ihn<br />
vorherbestimmt. Auch dafür bemüht er wieder das Bild von seinem einsamen,<br />
leidenden Herzen:<br />
[…] si je vous avais rencontrée plus tôt, vous auriez pu être à moi! J’aurais serré dans mes<br />
bras la seule créature que la nature ait formée pour mon cœur, pour ce cœur qui a tant<br />
souffert parce qu’il vous cherchait et qu’il ne vous a trouvée que trop tard! 75<br />
Es ist ersichtlich, daß die Begriffe „Herz“ und „Natur“ für Adolphe bloße<br />
Versatzstücke eines strategisch eingesetzten, romantischen Liebesdiskurses sind, an<br />
den er in dem Moment, in dem er ihn verwendet, nicht glaubt. Doch im Sinne der in<br />
der Préface bereits skizzierten Entwicklung verselbständigt sich dieser romantische<br />
Diskurs und affiziert letztlich auch denjenigen, der ihn anfangs nur zynisch benutzen<br />
wollte. Unmittelbar führt Adolphes romantisches Werben allerdings zum erhofften<br />
Erfolg: eine längere Reise des Comte de P*** kann Adolphe zum entscheidenden<br />
Angriff nutzen: Ellénore gibt seinem Werben nach und gesteht im zudem noch ihre<br />
Liebe. Gemessen an den Maßstäben der libertinen Literatur des 18. Jahrhunderts<br />
75 Ebd., S. 78.<br />
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