15.06.2014 Aufrufe

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

des historischen Denkens noch zurückkommen, die Begeisterung für<br />

autobiographische Erinnerungsliteratur in dieser Zeit ist aber schon einmal ein<br />

wichtiges Indiz. Der Erfolg von verlegerischen Initiativen wie den genannten<br />

Mémoire relatifs à la Révolution française erklärt sich jedenfalls durch diese<br />

Begeisterung. Die Übergänge zwischen dem historischen Rohmaterial, als das man<br />

die Memoiren betrachtete, und der Literatur im engeren Sinn sind fließend: Stendhal<br />

war zeit seines Lebens von Mme Roland fasziniert, der guillotinierten Frau des<br />

Ministers Roland, die ihre Erinnerungen im Revolutionsgefängnis verfaßt hatte. In<br />

Stendhals autobiographischen Schriften findet sich immer wieder die Formulierung,<br />

daß er für ideale Leser wie Mme Roland schreibe, so zu Beginn der Souvenirs<br />

d’égotisme:<br />

J’avoue que le courage d’écrire me manquerait si je n’avais pas l’idée qu’un jour ces<br />

feuilles paraîtront imprimées et seront lues par quelque âme que j’aime, par un être tel<br />

que Mme Roland […]. 81<br />

Wenn die Memoirenliteratur auch keine präzise definierte Gattung war, gab es doch<br />

Vorbilder, und Stendhal hatte schon 1805 die Mémoires von Mme Roland gelesen,<br />

die er am Anfang der Souvenirs ebenso zitiert wie Benvenuto Cellini, dessen<br />

Mémoires er in seinen italienischen Reiseberichten mehrfach als „admirables“<br />

bezeichnet hatte.<br />

Das ungeklärte Verhältnis zwischen Memoiren und Literatur zeigt sich auch bei<br />

Balzac, der 1830 die Einleitung zu den Memoiren Sansons, des Scharfrichters der<br />

Revolution, schreiben sollte. Charles-Henri Sanson war der Henker, der auch die<br />

Guillotine für Ludwig XVI. betätigt hatte, und die Herausgeber zielten mit der<br />

Publikation seiner Memoiren auf das Publikumsinteresse, mit dem auch die bereits<br />

erwähnten 60 Bände der Mémoires relatifs à la Révolution française aufgenommen<br />

worden waren, die zwischen 1820 und 1828 erschienen waren. Selbst der Titel sollte<br />

an die erfolgreiche Reihe erinnern, und die Bände erschienen im Februar 1830, also<br />

wenige Monate vor der Juli-Revolution, als Mémoires pour servir à l’Histoire de la<br />

Révolution française, par Sanson, exécuteur des arrêts criminels de la Révolution.<br />

Balzacs Einleitung war aber eine kurze Erzählung, mit der er die Authentizität des<br />

folgenden Memoirentexts garantieren wollte. Balzac erzählt, wie eine alte Frau, die<br />

sich später als ehemalige Klosterschwester herausstellen wird, im verschneiten Paris<br />

des Januar 1793 in der Atmosphäre der Terreur bei einem Bäcker heimlich Hostien<br />

kauft. Sie wird bei ihrem Einkauf von einem Mann verfolgt, der ihr bis in das<br />

81 Souvenirs d’égotisme. Pléiade-Ausgabe, Bd. 2, S. 429.<br />

83

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!