Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
seine Verschwörungsversuche alle gescheitert sind, akzeptiert er schließlich stoisch<br />
das Todesurteil, das der Kardinal über ihn verhängen läßt. Die Sympathien der Leser<br />
sollen deutlich dem Marquis zuteil werden, und der frustrierte Adlige Vigny<br />
formuliert damit indirekt die Anklage, daß die französischen Könige selbst an dem<br />
Schicksal Schuld seien, das sie nach 1789 ereilt habe, weil sie den alten Adel<br />
zugunsten der modernen Ministerialregierungen entmachtet und aufgegeben hätten.<br />
Victor Hugo, der Scott, wie wir gleich noch sehen werden, auch für historische<br />
Dramen ausschlachtete, hatte sich für den 1831 erschienenen Roman Notre-Dame de<br />
Paris ausgiebig bei Scotts Waverley-Novels bedient. Die große Schlacht- und<br />
Belagerungsszene in Notre-Dame, in der die Bettler und Diebe der Cour des Miracles<br />
die Kirche zu stürmen versuchen, ist fast Wort für Wort der Belagerung des Schlosses<br />
Torquilstone in Scotts Ivanhoe von 1819 nachgebildet, Hugos schöne Zigeunerin<br />
Esemeralda entspricht exakt der schönen Jüdin Rebecca bei Scott, der Glöckner von<br />
Notre-Dame, Quasimodo, entspricht genau dem grotesken Außenseiter Ulrica bei<br />
Scott, der dort das Schloß in Brand steckt, so wie Quasimodo die Kirche.<br />
Vielleicht noch bekannter als Notre-Dame, zumindest bis Hugos Roman zum<br />
Musical gemacht wurde, sind Alexandre Dumas’ Trois Mousquetaires von 1844. Auch<br />
hier ist der Böse wieder der Kardinal Richelieu, der die Vertreter des alten Adels im<br />
Sinne der neuen Zentralmacht zu disziplinieren sucht. Es ließen sich noch zahllose<br />
französische Romane nennen, die der von Walter Scott ausgelösten Mode<br />
nachschreiben, aber das würde uns zu weit führen. Für einen Überblick und für<br />
weitere Literaturhinweise ist zu empfehlen:<br />
Richard Maxwell: Scott in France. In: The Reception of Walter Scott in Europe. Hg. von<br />
Murray Pittock. London: continuum 2006, S. 11–30.<br />
Auch das historische Drama verdankt seinen Erfolg dieser Mode. Auch wenn es<br />
bereits vor Hernani Dramen mit historischen Themen gab (Dumas, Henri III et sa<br />
cour), wird die große Zäsur vom Erfolg von Hugos Drama auf der Bühne der Comédie<br />
française im Februar 1830 gebildet. Théophile Gautier, der zu den jungen Hugo-<br />
Anhängern gehörte, die am Abend der Uraufführung die traditionelle, bezahlte<br />
Claque ersetzten, und der selbst einer der wichtigsten Autoren der <strong>Romantik</strong> ab den<br />
1830er Jahren war, hat noch im Abstand von über vierzig Jahren, zu Beginn der<br />
1870er Jahre, eine Histoire du Romantisme geschrieben, die ganz im Zeichen von<br />
Hernani steht. Es gibt in Gautiers Geschichte der <strong>Romantik</strong> zwar auch Kapitel über<br />
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