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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

der Idee der Liebe einerseits und seiner immer wieder ausbrechenden Sehnsucht<br />

nach der absoluten Liebe andererseits kein erträgliches Gleichgewicht mehr findet.<br />

Doch das historische Eingangskapitel macht noch einen weiteren Grund für die<br />

Verzweiflung der „enfants du siècle“ aus: Auch literarisch ist schon alles gesagt, weil<br />

Goethe und Byron, die literarischen Napoleons, die Seelenzustände der Generation<br />

von Octave bereits beschrieben haben, ohne daß sie selbst die gleiche Ohnmacht zu<br />

erleiden gehabt hätten.<br />

Or, vers ce temps-là, deux poètes, les deux plus beaux génies du siècle après Napoléon,<br />

venaient de consacrer leur vie à rassembler tous les éléments d’angoisse et de douleur<br />

épars dans l’univers. Goethe, le patriarche d’une littérature nouvelle, après avoir peint<br />

dans Werther la passion qui mène au suicide, avait tracé dans son Faust la plus sombre<br />

figure humaine qui eût jamais représenté le mal et le malheur. Ses écrits commencèrent<br />

alors à passer d’Allemagne en France. […] Byron lui répondit par un cri de douleur […].<br />

(315)<br />

Die Wirkung der Ideen der Literaturen des Nordens auf die Franzosen – und hier<br />

erkennen wir deutlich die Spuren von Mme de Staëls Länderschema – seien<br />

besonders verhängnisvoll gewesen, weil man in Frankreich auf derart schwere<br />

melancholische Kost nicht vorbereitet gewesen sei. Die leichtsinnigen Franzosen<br />

hätten sich daher an den romantischen Ideen aus England und Deutschland<br />

lebensgefährlich übernommen:<br />

Quand les idées anglaises et allemandes passèrent ainsi sur nos têtes, ce fut comme un<br />

dégoût morne et silencieux, suivi d’une convulsion terrible. […] Ce fut comme une<br />

dénégation de toutes choses du ciel et de la terre, qu’on peut nommer désenchantement,<br />

ou, si l’on veut, désespérance, comme si l’humanité en léthargie avait été crue morte par<br />

ceux qui lui tâtaient le pouls. (316)<br />

Leider verliert Musset den historischen und kulturellen Rahmen, den er in diesem<br />

zweiten Kapitel skizziert, im Verlauf der Geschichte immer weiter aus den Augen.<br />

Viele Kritiker haben deshalb den Roman mit Ausnahme des zweiten Kapitels als<br />

weitgehend ungenießbar bezeichnet, so etwa noch vor einigen Jahren Pierre<br />

Laforgue, der von einer „illustration insupportable de toute le mussétisme“ (Pierre<br />

Laforgue: La confession d’un enfant du siècle, ou Histoire, fiction, Œdipe. In: ders.:<br />

L’Œdipe romantique. Grenoble: Ellug 2002, S. 161) gesprochen hat.<br />

Das scheint mir aber ein wenig ungerecht zu sein, besonders wenn man sieht, wie<br />

überlegt und ironisch Musset kurz nach Erscheinen des Romans in den erwähnten<br />

Lettres de Dupuis et Cotonet die literarischen Konventionen der <strong>Romantik</strong> analysiert.<br />

Wir werden uns diese Briefe noch näher ansehen, aber es fällt jedenfalls schwer zu<br />

glauben, daß Musset fast gleichzeitig an seinem Roman gearbeitet haben soll, ohne<br />

diese Konventionen genau zu bedenken.<br />

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