15.06.2014 Aufrufe

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

2.2.2011 Romantische Lyrik II<br />

Wir hatten letzte Woche mit Lamartine geschlossen und den literarhistorischen<br />

Einschnitt benannt, der mit dem Erscheinen der ersten Auflage seiner Méditations<br />

poétiques 1820 verbunden war. Wir hatten an einigen Beispielen gesehen, daß<br />

Lamartines Erneuerung nicht so sehr auf formaler als auf inhaltlicher Ebene zu<br />

suchen ist. Während er im Blick auf Rhythmus, Versform und Reimschema noch dem<br />

18. Jahrhundert verbunden bleibt, sind die Gegenstände seiner Gedichte und die<br />

darin verwendeten Bilder für die französische Lyrik um 1820 noch neu. Lamartine<br />

selbst hatte das mit dem mythologischen Wörterbuch umschrieben, das man<br />

gebraucht habe, um die Lyrik seiner Vorgänger zu verstehen. Er habe als erster die<br />

alte Leier – ganz wörtlich zu verstehen als die Leier, das Musikinstrument des<br />

antiken Dichters – beiseitegelegt und begonnen, auf den Saiten – mit AI – des<br />

Herzens zu spielen. In diese Richtung weist bereits der Titel seiner Sammlung:<br />

Méditations sind vor Lamartine keine in der Lyrik verwendete Gattung, Meditationen<br />

kennt man bis dahin nur aus der Philosophie oder der Religion. „Meditation“<br />

bedeutet normalerweise ein intellektuelles Sich-Versenken in einen Gegenstand, dem<br />

man sich zurückgezogen von der umgebenden Gesellschaft hingibt. Auch das ist eine<br />

Haltung, die man vor Lamartine in Frankreich nicht mit Lyrik verbindet; im<br />

Gegenteil, die übliche Form der Rezeption von Gedichten ist der öffentliche Vortrag<br />

in einer Gesellschaft, die Publikation in Buchform ist erst ein zweiter Schritt, der das<br />

Nachlesen ermöglicht. Daß eine Gedichtsammlung von Anfang an, und das heißt<br />

hier: vom Titel an, auf die einsame, versunkene Lektüre angelegt ist, war bis zu<br />

Lamartine nicht vorgesehen. Lamartines Lyrik bekommt damit eine betont<br />

weltabgewandte Funktion und wird zum Teil religiöser Kommunikation erklärt, wie<br />

nach den Méditations auch die weiteren Titel, die wir letzte Woche bereits kurz<br />

gesehen hatten, unterstreichen:<br />

Nouvelles Méditations poétiques (1823)<br />

Harmonies poétiques et religieuses (1830)<br />

Lyrische Meditation in der Natur und Gebet werden für Lamartine austauschbar, wie<br />

auch die freie Natur und der geschlossene Tempel als Orte der Besinnung auf die<br />

eigene Existenz und auf Gott austauschbar werden. Die ideale Beleuchtung für die<br />

religiös-poetische Handlung ist der Sonnenuntergang oder der nächtliche<br />

Mondschein. Die Begeisterung für die Natur geht dabei so weit, daß der gläubige<br />

121

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!