Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
Je m’adresse sans crainte à cette jeunesse égarée, qui a cru faire du patriotisme et de<br />
l’honneur national en sifflant Shakespeare parce qu’il fut Anglais. Comme je suis rempli<br />
d’estime pour des jeunes gens laborieux, l’espoir de la France, je leur parlerai le langage<br />
sévère de la vérité. 89<br />
Stendhals freundliches Urteil über die jungen Leute, die sich im Theater so sehr<br />
daneben benommen hatten, ist nicht bloß als Ironie zu verstehen. Politisch standen<br />
ihm die jungen Liberalen und Napoleon-Nostalgiker ja tatsächlich sehr nah, aber er<br />
sah es dennoch als notwendig an, ihnen in Fragen der Theaterästhetik<br />
Nachhilfeunterricht zu erteilen. Stendhals Verständnis des neuen Theaters hatte sich<br />
an den Theorien der italienischen <strong>Romantik</strong>er in Mailand geschult, wo er sich von<br />
1814 bis 1821 fast ununterbrochen aufgehalten hatte. Er hatte dadurch den<br />
sogenannten Mailänder <strong>Romantik</strong>erstreit, der 1816 ausgebrochen war, aus nächster<br />
Nähe verfolgt und war mit den meisten italienischen Protagonisten dieses Streits<br />
persönlich bekannt. Die Debatte in Italien war ausgelöst worden durch einen Artikel<br />
von Mme de Staël vom Januar 1816, in dem die Verfasserin von De l’Allemagne die<br />
Italiener aufforderte, sich ihre literarische Inspiration nicht mehr ausschließlich in<br />
der klassischen Literatur und in der antiken Mythologie zu suchen, sondern sich an<br />
den nordeuropäischen Literaturen der Gegenwart zu orientieren. Dazu sollten sie in<br />
großem Umfang deutsche, englische und französische Romane übersetzen und dann<br />
eine eigene moderne, zeitgemäße Literatur entwickeln.<br />
Mme de Staëls Vorschläge lösten in Italien einen Streit aus, der sich über mehrere<br />
Jahre hinzog. Auch in Italien waren politische und ästhetische Positionen vermischt.<br />
Mme de Staëls Plädoyer für die <strong>Romantik</strong> wurde vielen Italienern dadurch suspekt,<br />
daß sie es im ersten Heft einer Zeitschrift veröffentlichte, der Biblioteca italiana –,<br />
die von den österreichischen Besatzern ausdrücklich zu dem Zweck ins Leben gerufen<br />
worden war, die italienischen Intellektuellen zur Kollaboration mit dem neuen<br />
Regime zu bewegen. Die <strong>Romantik</strong> erschien dadurch vielen Italienern als das<br />
ästhetische Programm, mit dem die neue Herrschaft den italienischen Patriotismus<br />
abwürgen und nationale Bestrebungen unterdrücken wollte, da die klassische Antike<br />
in Italien schlicht der Ursprung der nationalen Literatur sei. Der Streit nahm<br />
besonders in Mailand solche Ausmaße an, daß Goethe noch 1820 darauf reagierte<br />
und dem deutschen Publikum die italienischen Zustände in einem eigenen Artikel zu<br />
erklären versuchte. Der Titel „Klassiker und <strong>Romantik</strong>er in Italien, sich heftig<br />
bekämpfend“ deutete bereits darauf hin, daß der Streit aus der Weimarer Perspektive<br />
89 Stendhal: Racine et Shakespeare (1823). In: Ders.: Racine et Shakespeare (1818–1825) et autres<br />
textes de théorie romantique. Hg. Michel Crouzet. Paris: Champion 2006, S. 269.<br />
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