Vorlesung Romantik Text
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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />
wichtig wurde. Guizot hatte im mehr als 150 Seiten langen Vorwort, das er zu seiner<br />
Ausgabe schrieb, den Klassizismus für tot erklärt, indem er ihn historisierte:<br />
Le système classique est né de la vie de son temps; ce temps est passé: son image subsiste<br />
brillante dans ses œuvres, mais ne peut plus se reproduire.<br />
François Guizot : Vie de Shakespeare. In : Shakespeare : Œuvres complètes. Paris :<br />
Ladvocat 1821, S. CLI.<br />
Der Klassizismus ist für den Historiker Guizot keine zeitlose Größe, sondern das<br />
Produkt bestimmter historischer Bedingungen, die unter Ludwig XVI. gegeben<br />
waren, die aber nun nicht mehr existieren. Neue literarische Denkmäler können<br />
deshalb nicht mehr auf dem Boden der Werke von Corneille und Racine errichtet<br />
werden. Sie können zwar auch nicht unmittelbar auf Shakespeare aufbauen, aber der<br />
Engländer biete doch zumindest ein System, mit dem auch die historische Situation<br />
der Gegenwart noch angemessen wiedergegeben werden könne<br />
Ce terrain n’est pas celui de Corneille et de Racine; ce n’est pas celui de Shakespeare, c’est<br />
le nôtre; mais le système de Shakespeare peut seul fournir, ce me semble, les plans<br />
d’après lesquels le génie doit travailler. 95<br />
Guizot fordert daher historische Dramen, die wie die Historienmalerei alle Aspekte<br />
der großen Umwälzungen erfassen, deren Zeuge Frankreich seit der Revolution<br />
geworden sei. Das Theater dürfe nicht auf die begrenzten Konflikte des klassischen<br />
Repertoires mit all seinen Regelbeschränkungen festgelegt werden, sondern müsse<br />
den ganzen Menschen in seiner historischen Situation zeigen können:<br />
Témoins depuis trente ans des plus grandes révolutions de la société, nous ne reserrerons<br />
pas volontiers le mouvement de notre esprit dans l’espace étroit de quelque événement de<br />
famille, ou dans les agitations d’une passion purement individuelle. […] Il nous faut de<br />
tableaux où se renouvelle ce spectacle, où l’homme tout entier se montre et provoque<br />
toute notre sympathie. 96<br />
Was Guizot Shakespeares „System“ nannte, wurde von Victor Hugo in der „Préface de<br />
Cromwell“ von 1827 dramentheoretisch entwickelt. Shakespeare diente Hugo als<br />
Beispiel für die Überwindung des Gegensatzes von Tragödie und Komödie. Ähnlich<br />
wie Guizot hielt Hugo es für unmöglich, „l’homme tout entier“ auf die Bühne zu<br />
bringen, ohne die klassischen Gattungsgrenzen zu überschreiten. Da die von Gott<br />
geschaffene Natur und das menschliche Leben als Teil der Natur nicht nur schön und<br />
erhaben seien, sondern Schönes neben Häßlichem, Anmutiges neben Unförmigem<br />
existiere, müsse das Bühnengeschehen dem Rechnung tragen. Die Regeln des<br />
95 Ebd.<br />
96 Ebd.<br />
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