15.06.2014 Aufrufe

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

Vorlesung Romantik Text

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

5.1.2011: Romantische Autobiographie<br />

Wir hatten in der letzten <strong>Vorlesung</strong> vor der Weihnachtspause einen ersten Blick auf<br />

Stendhals autobiographisches Schreiben geworfen und uns den Anfang der Souvenirs<br />

d’Égotisme angesehen, an denen Stendhal 1832 ein paar Wochen intensiv arbeitet,<br />

die er dann aber nicht abschließt. Wir hatten auch Stendhals Skrupel kennengelernt,<br />

ständig in der ersten Person Singular zu sprechen, eine Sprechhaltung, die Stendhal<br />

in der Vie de Henry Brulard, seinem zweiten Anlauf für eine Autobiographie,<br />

namentlich mit François de Chateaubriand verbindet. Diese beiden Namen stehen für<br />

zwei der wichtigsten autobiographischen Projekte der <strong>Romantik</strong>, die in den<br />

modernen Ausgaben jeweils mehr als 2000 Seiten bedrucktes Papier umfassen.<br />

Während Chateaubriand von 1803 bis 1847 an seinen Erinnerungen arbeitet,<br />

umfassen die erhaltenen autobiographischen Aufzeichnungen von Stendhal – wenn<br />

man sein Tagebuch und die beiden erwähnten Erinnerungsbücher aus den 1830er<br />

Jahren zusammennimmt, die Jahre 1801 bis 1842.<br />

Wenn die Autobiographie uns aus heutiger Sicht auf den ersten Blick als die ideale<br />

Form der romantischen Ich-Aussprache erscheinen mag, dürfen wir nicht vergessen,<br />

daß es sich dabei zur Zeit der <strong>Romantik</strong> noch nicht um eine etablierte literarische<br />

Gattung handelt. Für das Schreiben über sich selbst gibt es keine verbindlichen<br />

Regeln, deshalb ist die Autobiographie zunächst keine Literatur. Selbst das Wort<br />

existiert für die Zeitgenossen noch nicht. Es handelt sich dabei, wieder einmal, um<br />

einen Import aus dem Deutschen und Englischen, wo der Begriff ab 1830 häufiger<br />

auftaucht. Der erste französische Beleg findet sich erst 1842. Natürlich haben auch in<br />

Frankreich vorher Menschen über sich selbst geschrieben, aber erst mit der<br />

Revolution und der beginnenden <strong>Romantik</strong> erweitert sich der Kreis derjenigen, die<br />

ihr eigenes Ich für einen beschreibenswerten Gegenstand halten, signifikant, so wie<br />

sich auch der Blick auf dieses Ich signifikant verändert. Die Modelle, die für dieses<br />

Schreiben bereitstehen, sind vor 1800 überschaubar wenige:<br />

Zum einen existiert die Form der Memoiren, die üblicherweise von historisch<br />

bedeutenden Persönlichkeiten verfaßt werden und den Anspruch haben, einen<br />

Beitrag zur Geschichtsschreibung zu leisten. Die differenzierte Darstellung des<br />

eigenen, möglicherweise problematischen Ich ist dabei nicht vorgesehen, der Akzent<br />

liegt auf dem Exemplarischen und historisch Bemerkenswerten.<br />

81

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!