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Vorlesung Romantik Text

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<strong>Vorlesung</strong> Französische <strong>Romantik</strong> WiSe 2010/2011<br />

aus der sich aber kein klassischer Autor bedienen könne, weil die derbe Sprache der<br />

Renaissance den Anstandsregeln widerspreche:<br />

Les règnes de Charles VI, de Charles VII, du noble François I er , doivent être féconds pour<br />

nous en tragédies nationales d’un intérêt profond et durable. Mais comment peindre avec<br />

quelque vérité les catastrophes sanglantes narrées par Philippe de Commynes, et la<br />

Chronique scandaleuse de Jean de Troyes si le mot pistolet ne peut absolument pas entrer<br />

dans un vers tragique? 92<br />

Nicht nur ein Wort wie „pistolet“ wirkte schockierend, auch ein Taschentuch wäre<br />

unvorstellbar gewesen. Noch 1829, kurz vor der Aufführung von Hernani, hatte eine<br />

Version von Shakespeares Othello, die Alfred de Vigny für das Théâtre français<br />

verfaßt hatte, bei jeder Erwähnung des Taschentuchs, nach dem Othello Desdemona<br />

fragt, für lautes Gelächter der Klassiker im Saal gesorgt. Stendhal bringt im dritten<br />

Kapitel von Racine et Shakespeare ein Beispiel für die sprachlichen Verrenkungen,<br />

die die Anstandsregeln den klassischen Autoren abverlangen. In seiner Tragödie La<br />

mort de Henri IV von 1806 wollte Gabriel-Marie Legouvé (1764–1812) den<br />

berühmten Ausspruch Heinrichs IV unterbringen, daß jeder Bauer im Königreich am<br />

Sonntag ein Huhn im Topf haben sollte. An der Art, wie Legouvé dabei alle<br />

anstößigen Wörter – Bauer, Huhn, Topf – umkurvt, macht Stendhal den Unterschied<br />

zwischen sprachlichem Klassizismus und der <strong>Romantik</strong>, zwischen Shakespeare und<br />

Racine deutlich:<br />

Ce qu’il y a d’antiromantique, c’est M. Legouvé, dans sa tragédie de Henri IV, ne pouvant<br />

pas reproduire le plus beau mot de ce roi patriote: „Je voudrais que le plus pauvre paysan<br />

de mon royaume pût du moins avoir la poule au pot le dimanche“: Ce mot raiment<br />

français eût fourni une scène touchante au plus mince élève de Shakespeare. La tragédie<br />

racinienne dit bien plus noblement:<br />

Je veux enfin qu’au jour marqué pour le repos,<br />

L’hôte laborieux des modestes hameaux<br />

Sur sa table moins humble ait, par ma bienfaisance,<br />

Quelques-uns de ces mets réservés à l’aisance. 93<br />

Die französische Renaissance, die Stendhal ins Spiel gebracht hatte, wurde wenig<br />

später tatsächlich ein bevorzugter Schauplatz der neuen Dramen. Eines der ersten<br />

erfolgreichen romantischen Stücke ist 1829 Henri III et sa cour von Alexandre<br />

Dumas père. Wie hatten bereits in der Chronologie der <strong>Romantik</strong>, die Mussets<br />

Provinzintellektuelle 1836 in den Lettres de Dupuis et Cotonet entwerfen, gesehen,<br />

daß auch den beiden spießigen <strong>Romantik</strong>forschern aufgefallen war, daß um 1830 das<br />

Mittelalter und die Renaissance sehr beliebt waren:<br />

92 Ebd., S. 265.<br />

93 Ebd., S. 299.<br />

93

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